SPORTPSYCHOLOGIE | Johannes Seemüller
  07.03.2023


Im Sport setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass psycholgischen Aspekten eine wichtige Bedeutung zukommen sollte. Daher wirft die SportRegion im Jahr 2023 ein Schlaglicht auf dieses Gebiet. In der Rubrik SPORTPSYCHOLOGIE kommen Sportpsychologinnen und Sportpsycholgen zu Wort, die sich jeweils mit einem Teilaspekt auseinandersetzen. In der 4. Folge ist ausnahmsweise ein Sportjournalist dran – Johannes Seemüller wirft dabei den Blick auf die Sportberichterstattung. 2021 veröffentlichte Seemüller das Buch „Am Limit – Wie Sportstars Krisen meistern“ (Springer Verlag, Heidelberg). Darin erzählen Olympiasieger, Weltmeister und Champions-League-Sieger in exklusiv geführten Interviews von ihrer Leidenschaft für den Sport. Sie berichten aber auch ungeschminkt über die Schattenseiten. 


Thema: „Mentale Gesundheit“ in der Sportberichterstattung

Im Sommer 2004 wurde Skisprung-Star Sven Hannawald aus einer Rehaklinik entlassen. Dort hatte er sich mehrere Wochen wegen eines Burnouts behandeln lassen. Viele Sportjournalisten konnten damals mit den Begriffen Burnout, Depressionen oder mentale Erschöpfung wenig anfangen. Ein Spitzensportler hatte in ihren Augen stark zu sein und seine Leistung abzuliefern. Er galt als unverwundbar. Die Fans brauchten ihre Sporthelden, die profitorientierte Sportindustrie benötigte ihre Vorzeige-Athleten. Aufgabe der Medien schien es zu sein, genau dieses Bild zu transportieren. Als junger Sportjournalist ertappte ich mich selbst dabei, die Nähe zu den Stars zu genießen und sie zu idealisieren.

Am Tag nach Hannawalds Entlassung aus der Klinik ging es in der Berichterstattung nur um eine Frage: Wann würde der Überflieger endlich wieder springen? Skisprung-Experte Dieter Thoma baute sofort Druck auf: „Ich vermisse eine Entscheidung, ob er weitermacht oder nicht. Ich glaube, ihm fehlt der Glaube, dass er das Wunder schafft.“ Offenkundig fehlte Thoma und den meisten Journalisten das Wissen über psychische Erkrankungen. Hintergrundinformationen in der Berichterstattung über die Bedeutung von „mentaler Gesundheit“ waren Mangelware.

Ottmar Hitzfeld, einer der erfolgreichsten Fußballtrainer der Welt, berichtete mir davon, dass er 2004 seine Burnout-Erkrankung bewusst geheim gehalten hatte. Hitzfeld hätte damals Nachfolger von Rudi Völler als Bundestrainer werden sollen. Die Medien drängten auf eine rasche Entscheidung, doch Hitzfeld war mental am Ende. Also erklärte er offiziell, dass er seiner Frau versprochen habe, der Familie mehr Zeit zu widmen. Den wahren Grund für seine Absage verschwieg er. „Die Öffentlichkeit hätte es nicht verstanden. Die Zeit war damals noch nicht reif.“

Erst als im November 2009 der Suizid von Nationaltorwart Robert Enke (nicht nur) die Fußball-Welt erschütterte und seine Ehefrau Teresa in einer bewegenden Pressekonferenz bekannt gab, dass Enke an schweren Depressionen litt, änderte sich Schritt für Schritt die Art der Berichterstattung. Es ging nun häufiger als früher um seelische Erkrankungen oder mentale Hygiene.

Immer mehr AthletInnnen und Trainer gewannen den Mut, öffentlich über das frühere Tabu-Thema „Mentale Gesundheit“ zu sprechen: Ralf Rangnick, Michael Phelps, Lindsey Vonn, Markus Miller, Martin Hinteregger oder Benjamin Pavard. Auch den SportlerInnnen, mit denen ich für mein Buchprojekt „Am Limit – Wie Sportstars Krisen meistern“ gesprochen habe, sind Phasen mentaler Erschöpfung nicht fremd: Ob Timo Hildebrand, Kristina Vogel, Elisabeth Seitz, oder Frank Stäbler – sie alle mussten sich damit auseinandersetzen.

Weltweite Beachtung fand das Thema dann spätestens rund um die Olympischen Spiele im Jahr 2021 in Tokio, als Weltklasse-Turnerin Simone Biles und Tennis-Star Naomi Osaka öffentlich über ihre mentalen Probleme sprachen. Dafür bekamen sie von fast allen Seiten Unterstützung und Applaus. Dank der Bekenntnisse solcher Sportgrößen und der intensiveren Berichterstattung ist die Bereitschaft vieler Menschen gestiegen, sich schneller helfen zu lassen. Therapeuten berichten, dass sich zunehmend Männer in Behandlung begeben, weil sie gemerkt hätten: „Wenn sogar einer wie Enke oder Pavard das hatte, dann will ich mir auch helfen lassen.“

Auch wenn der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger im Jahr 2009 auf der Trauerfeier für Robert Enke sagte „Fußball darf nicht alles sein“, so ist der Fußball doch Fußball geblieben. Der Leistungsdruck wird immer da sein, schließlich definiert sich der Spitzensport über erbrachte Resultate. Dass auch wir Sportjournalisten weiter darüber spekulieren, wer spielen wird oder dass wir die Leistung eines Spielers einordnen, gehört zum Geschäft dazu und wird von Fans und Lesern erwartet.

Trotzdem bemühe ich mich auch in der Hektik meiner täglichen Arbeit darum, bei meiner Wortwahl möglichst achtsam zu sein. Ist eine „Niederlage“ immer gleich eine „Pleite“ oder eine „Klatsche“? Ist der Fauxpas oder Patzer des Torwarts gleich eine „Katastrophe“ oder eine „Slapstick“-Einlage? Was maßen wir uns an, den Spielern tatsächlich nach jedem Spiel eine Note zu verpassen – wie kleinen Schuljungen beim Mathe-Test? Müssen wir die Bundesliga-Spieler tätsächlich den „Absteiger der Saison“ wählen lassen?

Rekordturnerin Elisabeth Seitz erzählte mir, dass sie sich früher zu jedem Training geschleppt habe, auch wenn es ihr mies ging. Das macht sie heute nicht mehr. Sie nimmt sich ihre Pausen, wenn sie sie braucht. „Heute gehe ich viel gnädiger mit mir um.“ Ein schöner Leitsatz, auch für uns Journalisten. Ein gnädiger Umgang – mit uns selbst und mit den Menschen, die Spitzensport betreiben.


Johannes Seemüller arbeitet als verantwortlicher Multimedia- und TV-Redakteur in der Sportredaktion des SWR (Südwestrundfunk). Der ehemalige „Sport im Dritten“-Moderator blickt in seinen Interviews und Geschichten gern hinter die glitzernde Fassade des Leistungssports. Außerdem arbeitet er als freier Autor. 2021 veröffentlichte Seemüller das Buch „Am Limit – Wie Sportstars Krisen meistern“ (Springer Verlag, Heidelberg). Darin erzählen Olympiasieger, Weltmeister und Champions-League-Sieger in exklusiv geführten Interviews von ihrer Leidenschaft für den Sport. Sie berichten aber auch ungeschminkt über die Schattenseiten. U.a. mit Gerald Asamoah, Karla Borger, Timo Hildebrand, Ottmar Hitzfeld, Elisabeth Seitz, Frank Stäbler und Kristina Vogel. [Foto: Pressefoto Baumann & privat]

Mehr Infos: https://www.johannes-seemueller.de und https://www.buecher.de/shop/kommunikation/am-limit-wie-sportstars-krisen-meistern/seemueller-johannes/products_products/detail/prod_id/60537426/

 

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