MEIN MOMENT | Lomuscio: Der Radball-Bundestrainer
  29.03.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 13. Folge geht es um  Michael Lomuscio, den Radball-Bundestrainer der Junioren.

Michael Lomuscios Rückblick

Wer in Gärtringen geboren wird, dort aufwächst und wohnt, landet sportlich fast zwangsläufig beim Hallenradsport, ist der Radfahrerverein Gärtringen doch mit ungefähr 220 Mitgliedern einer der größten Vereine Gärtringens und zählt zudem zu den größten Hallenradsport-Vereinen in Deutschland. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass ich dem RVG beitrat und dort mittlerweile schon 45 Jahre Mitglied bin. Unser Verein bietet seinen Radsportlern Trainings- und Wettkampfmöglichkeiten in den Sportarten Radball, Kunstrad, Radpolo und Tourenrad.

Schon als Junge war ich total sportverrückt, aber beim Kunstradfahren ging es mir zu ruhig zu. Für mich gehören Emotionen zum Sport dazu, und deshalb spielte ich schon als Schüler Radball. Die Abteilung für Radball im RV Gärtringen war 1961 gegründet worden, damals war ich aber noch gar nicht auf der Welt!

Um die – für mich – „Faszination Radball“ zu erklären, sollte ich vielleicht die Sportart etwas erklären. Gespielt wird in der Halle mit speziellen Fahrrädern in Zweier-Teams auf Tore, die zwei Meter breit und zwei Meter hoch sind. Einer der beiden Spieler ist der Torwart, nur er darf zur Abwehr der Torschüsse die Hände benutzen. Der Ball hat einen Durchmesser von 17 bis 18 Zentimetern und ist 500 bis 600 Gramm schwer. Gefüllt ist er in der Regel mit Ross- oder Elchhaar. Er springt daher fast nicht. Im Spiel erreicht der Ball bis zu 70 Kilometer pro Stunde und kann ganz schön schmerzhafte blaue Flecken verursachen, im Extremfall ist er sogar 90 Kilometer pro Stunde schnell. Das Spielfeld muss bei offiziellen internationalen Wettkämpfen 14 mal 11 Meter messen und ist mit einer 30 Zentimeter hohen schrägen Bande umgeben.

Das modifizierte Fahrrad ist durch seine 1:1-Übersetzung auf die starre Nabe, den speziellen Lenker und eine lange waagerechte Sattelstütze gekennzeichnet. Die starre Übersetzung der Trittbewegungen auf das Hinterrad ermöglichen das Rückwärtsfahren und das Stehen im Tor. Sowohl vorne als auch hinten wird über den Ball gesprungen, gespielt wird er vor allem mit dem unteren hinteren Teil des Vorderrades. Ein Radball-Rad kostet, je nach Hersteller, etwa 1.500 bis 2.800 Euro. Weitere Disziplinen sind Fünfer-Radball und Sechser-Rasenradball. Während Fünfer-Radball durchaus auch in der Halle stattfinden kann, wird Rasenradball von Mannschaften mit je sechs Spielern nur im Freien gespielt.

Ganz witzig finde ich die Entstehungsgeschichte von Radball: Es wird erzählt, dass am Ende des 19. Jahrhunderts dem damals bekannten Kunstradfahrer Nicholas Kaufmann ein kleiner Hund vors Rad gelaufen sein soll. Um Sturz und eine Verletzung des Tieres zu verhindern, beförderte er ihn sanft mit dem Vorderrad zur Seite. Diese Art und Weise, einen Gegenstand zu befördern, zeigte Kaufmann, ein Europäer, der in Amerika aktiv war, 1883 gemeinsam mit John Featherly, einem anderen Kunstradfahrer, der Öffentlichkeit. Anstatt eines Hundes nahmen sie einen Polo-Ball – und die Idee für Radball war geboren. In Amerika wurde die Sportart unter den Kunstradfahrern schnell populär und kam auch bald nach Europa. Dort waren offiziell die beiden Berliner Kunstradfahrer Paul und Otto Lüders die ersten Radballspieler, die diese neue Sportart am 10. März 1901 der deutschen Öffentlichkeit vorstellten.

Zurück zu meiner eigenen Radball-Laufbahn: Die Erfolge stellten sich in der Jugend schnell ein und zusammen mit meinem ein Jahr jüngeren Bruder Sandro war ich mit Feuereifer dabei. Bald spielten wir in der Radball-Bundesliga und wurden insgesamt fünf Mal Deutscher Meister. Der Knaller war dann im Jahr 2000 die Weltmeisterschaft in der Böblinger Sporthalle. Es war der absolute Höhepunkt in der bisherigen Vereinsgeschichte des RV Gärtringen. Unser kleiner Verein richtete die Hallenradsport-Weltmeisterschaft aus! Bei der Bewerbung um dieses Großereignis stach der RVG so prominente Mitbewerber wie Stuttgart mit der Hanns-Martin-Schleyer-Halle und Karlsruhe mit der Europahalle aus!

Schnell wurden, mit dem damaligen Vorsitzenden und heutigen Ehrenmitglied Hartmut Kimmerle und Eugen Kirn, dem ehemaligen Vorsitzenden des Württembergischen Radsportverbands (WRSV) und Ehrenmitglied des RV Gärtringen, an der Spitze, Arbeitsgruppen und der „Verein zur Durchführung der Hallenradsport-Weltmeisterschaft 2000 in Böblingen“ gegründet. Zweieinhalb Jahre wurde intensiv organisiert und vorbereitet. Mit der Stadtverwaltung Böblingen, die die Sporthalle Böblingen als Austragungsstätte zur Verfügung stellte, dem Congress Centrum Böblingen und dem RKV Böblingen fanden die Gärtringer zuverlässige und engagierte Partner. Schon Monate vor der WM waren alle Tickets weg – immerhin 4.500 pro Tag!

Insgesamt 13.500 Zuschauer verwandelten die an allen drei Tagen ausverkaufte Böblinger Sporthalle in ein Tollhaus. Sandro und ich entthronten im Radball-Finale zum Abschluss der WM Titelverteidiger Schweiz mit 6:4 Toren! Hartmut Kimmerle freute sich über den ausgeglichenen 850.000-Mark-Etat und den großen Einsatz der zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Der Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR), Manfred Böhmer, zog gegenüber dem Sportinformationsdienst (sid) das folgende Fazit: „Es war goldrichtig, diese Weltmeisterschaft nach Württemberg zu geben, in die Wiege des Hallenradsports.“

Den Sportlern, Gästen und Besuchern aus der ganzen Welt war tatsächlich – wie erhofft und geplant – eine erinnerungswürdige WM mit eigenem Charakter geboten worden, und heute noch schwärmen viele Hallenradsport-Freunde von diesem Großereignis. Auch heute, mehr als 20 Jahre später, werde ich von fremden Menschen angesprochen: „Das war damals toll, wir waren alle total heiser!“ Die WM-Tage haben uns geprägt und wir sind stolz, dabei gewesen zu sein! Dass wir ein Jahr später in Kaseda in Japan unseren Titel und das Regenbogentrikot verteidigen konnten und insgesamt dreimal an einer WM teilgenommen haben, das alles erscheint mir jetzt in der Rückschau wie ein Traum, der für uns wahr geworden ist.

2003 beendeten wir unsere aktive Laufbahn. Ich war schon seit 2005 bis 2019 als „Co“ der Bundestrainer Jürgen King und Matthias König für den A- und B-Kader verantwortlich, 2006 bis heute kam noch als Hauptverantwortlicher Bundestrainer der C-Kader (Junioren) dazu. In dieser Zeit war ich fast immer unterwegs und wollte mehrmals aufhören, ließ mich aber immer wieder zum Weitermachen überreden. Mittlerweile sind meine beiden Töchter Maya (9) und Mia (8) als Kunstradfahrerinnen im Sport engagiert, und wenn ich ihnen zuschaue, macht mich das schon stolz! Ich genieße die Situation, wie sie heute ist, bin als Familienmensch sehr heimatverbunden und mit meinem Leben in Gärtingen, im Verein und in der Region sehr glücklich.


Michael Lomuscio ist Kommunikationselektroniker in einem kleinen Betrieb in Leonberg. Mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Sandro wurde er zweimal Weltmeister im Radball (2000 in Böblingen, 2001 im japanischen Koseda). Seit 2006 ist er Bundestrainer der Junioren.

[Fotos: Pressefoto Baumann]