MEIN MOMENT | Kapitän des Blindenfußball-Nationalteams
  09.08.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 32. Folge geht es um Alexander Fangmann, den Kapitän der deutschen Blindenfußball-Nationalmannschaft.

Alexander Fangmanns Rückblick

Als ich acht Jahre alt war, erblindete ich aufgrund einer Netzhautablösung. Schon mit sechs bekam ich erste Sehschwierigkeiten, die ich aber bis zur zweiten Klasse dank verschiedener Sehhilfen ganz gut ausgleichen konnte. Noch als sehendes Kind spielte ich mit meinen Freunden und im Verein Fußball, damals entstand auch meine Begeisterung für diesen Sport, die bis heute anhält. Nach meiner Erblindung besuchte ich die dritte Grundschulklasse einer Blindenschule in Hannover und lernte dort Braille, eine 1825 von Louis Braille entwickelte tastbare Blindenschrift. Sie ist heute weltweit verbreitet und auch im Computerzeitalter keineswegs unmodern. Natürlich lernte ich später auch den Umgang mit den Blindenlangstock.

Ab der vierten Klasse bin ich in meiner Heimatstadt Lohne integrativ beschult worden. Nach dem Abitur zog es mich in den Süden. Ich studierte in Tübingen (Rhetorik und Sprachwissenschaft) und habe dort 2006 mit einer Kommilitonin das Blindenfußballtraining ins Leben gerufen. Ein Jahr später haben wir mit dem MTV Stuttgart eine Vereinsheimat gefunden und fortan die Mannschaft stetig aufgebaut.

Heute bin ich als Sport-Inklusionsmanager beim Württembergischen Landessportbund (WLSB) angestellt, der sich stark für die Einbindung von Menschen mit Behinderung in den Sport einsetzt. Der Sport kann durch seine niederschwellige Art ein unheimlich guter Einstieg ins Themenfeld Inklusion sein. Barrierefreiheit von Sportangeboten und Sportstätten, Fortbildungen von Übungsleitenden, Sensibilisierung von Vereinsmitarbeitenden oder finanzielle Förderung von Vereinen, die Inklusionssport anbieten, zählen zu unseren Hauptaufgaben.

Blindenfußball ist eine Sportart aus dem Bereich des Blindensports, die seit Sommer 2006 in Deutschland praktiziert und trainiert wird. Gespielt wird mit fünf Spielern pro Team, nur der Torhüter ist ein sehender Spieler. Die Feldspieler sind blind und tragen Dunkelbrillen, um eventuelle Unterschiede in der Sehschädigung auszugleichen und zu gewährleisten, dass die Spieler gleiche Voraussetzungen haben. Die Torhüter sowie die Team-Guides, die hinter dem gegnerischen Tor postiert sind, aber auch die Trainer an den Banden unterstützen mit Zurufen ihre Mannschaften. Beim Blindenfußball spielen auch Frauen und Männer zusammen, deshalb ist er inklusiv wie kaum eine andere Sportart.

Der Ball ist im Inneren mit Rasseln versehen und auf diese Weise hörbar. Die Spieler untereinander orientieren und warnen sich international mit dem spanischen Ausruf „Voy!“ (zu Deutsch: „Ich komme“). Das Spiel blinder Spieler funktioniert durch gutes Gehör, Orientierungssinn, Körperbeherrschung und den engen Kontakt zum hörbaren Ball. Durch eine spezielle Lauftechnik bleiben Ball und Füße bis zur Abgabe in Berührung. Im Fall eines Strafstoßes, der im Blindenfußball vom Sechs-Meter-Punkt ausgeführt wird, klopft der Torhüter vor dem Schuss links und rechts an die Pfosten, um die Orientierung des Schützen zu erleichtern.

Das Spielfeld ist 20 mal 40 Meter groß, die Längsseiten sind von stabilen Seitenbanden begrenzt. Die Akteure spielen und passen über diese Banden und können sich zudem an ihnen orientieren. Blindenfußball hat seinen Ursprung im Futsal. So ähnelt das Regelwerk im Blindenfußball bis auf wenige Ausnahmen (Voy-Regel) den Futsal-Regeln der FIFA. Gespielt wird auf Kunstrasen, da hier ein gleichmäßiges Rollen und damit Geräusch des Balles gewährleistet ist.

Die Tore sind wie im Feldhockey 3,66 Meter breit und 2,14 Meter hoch. Die Gesamtspieldauer beträgt effektive 40 Minuten – ein Zeitspiel ist bei der ablaufenden Uhr demnach kaum möglich. Der Ball besteht aus Leder oder Synthetik, hat einen Umfang von 62 Zentimetern und ein Gewicht von 510 bis 540 Gramm. Er ist damit kleiner und schwerer als der FIFA-Fußball. Der internationale Wettkampfbetrieb wird von der Dachorganisation des Blindensports in Europa, der International Blind Sports Federation (IBSA), organisiert.

Die noch junge Geschichte des Blindenfußballs in Deutschland begann im Mai 2006 mit dem ersten internationalen Blindenfußballturnier in Berlin. Bis dahin gab es hier überhaupt keinen organisierten, vereinsangebundenen Blindenfußball wie etwa in Südamerika, England oder Spanien. Zu Gast waren Brasilien (Gold bei den Paralympics 2004 in Athen) und die drei besten Mannschaften der Europameisterschaften 2005 in Málaga/Spanien, nämlich Spanien, Frankreich und England. Nach diesem offiziellen „Kick-Off“ gründeten sich vielerorts eigene Blindenfußball-Teams. Nach und nach nahmen blinde Sportler in Tübingen, Mainz, Stuttgart, Würzburg, Dortmund, Essen, Berlin, Chemnitz, Marburg und Hamburg ein regelmäßiges Training auf. Bereits im März 2007 fand in Tübingen das erste deutsche Blinden-Hallenfußball-Turnier statt.

Seit Juni 2007 engagiert sich auch der Deutsche Behindertensportverband (DBS) aktiv im Blindenfußball. Im März 2008 startete die vom DBS, DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband) und der Sepp-Herberger-Stiftung gegründete Deutsche Blindenfußball-Bundesliga (DBFL) in die erste Saison. „Mein“ MTV Stuttgart war Gründungsmitglied der Bundesliga und belegte im ersten Jahr von den acht teilnehmenden Mannschaften den zweiten Platz hinter dem Meister SSG Blista aus Marburg. Austragungsorte waren neben Stuttgart und Dortmund auch die Hauptstadt Berlin.

Bis heute holte ich mit dem MTV Stuttgart insgesamt sieben Mal die Deutsche Meisterschaft, zuletzt 2020. Zwei Jahre zuvor, 2018, konnten wir seit einer kleinen Durststrecke endlich wieder die Meisterschale in die Höhe strecken. Das war zugleich einer meiner schönsten Momente, denn davor konnten wir diesen Titel vier Jahre lang nicht holen. Aber mit unserem neuen Trainer Giuseppe Calaciura schafften wir nach dieser Umbruchphase Platz eins in der Bundesliga und die Meisterschaft. Ein weiterer toller Moment war die Heim-Europameisterschaft 2017 in Berlin. Beim Eröffnungsspiel haben wir vor 2.000 Zuschauern gespielt, und auch wenn wir am Ende nur den sechsten Platz belegten, war dieses Turnier vor heimischem Publikum sicher etwas ganz Besonderes. Wobei ich durch meinen Sport unzählige sehr viele schöne und besondere Erlebnisse hatte und hoffentlich noch haben werde.

Sehr gefreut habe ich mich 2019 – und ich fühlte mich überaus geehrt –, als ich gefragt wurde, ob ich nicht als Mitglied in das Kuratorium der Sepp-Herberger-Stiftung kommen wolle. Sie ist eine Stiftung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), die im März 1977 zu Ehren des früheren Nationalspielers und Nationaltrainers Sepp Herberger zu dessen 80. Geburtstag eingerichtet wurde und die älteste Fußballstiftung Deutschlands ist. Ihre Aufgabe ist es, soziale und karitative Projekte zu fördern und zu unterstützen. Dazu gehören Projekte im Behindertenfußball, zur Resozialisierung von Strafgefangenen sowie zur Förderung des Fußball-Nachwuchses in Schulen und Fußballvereinen und das DFB-Sozialwerk. Mitglieder des Kuratoriums sind Persönlichkeiten der Gesellschaft, der Politik und des Fußballs, Botschafter zum Beispiel Horst Eckel, Reinhold Beckmann, Rea Garvey, Dieter Gruschwitz, Jens Nowotny, Otto Rehhagel, Uwe Seeler, Tina Theune oder Ilse Aigner, mit denen ich jetzt bei Sitzungen und Veranstaltungen an einem Tisch sitze. Das ist nicht nur eine wichtige, sondern auch eine sehr spannende Aufgabe.

Mittlerweile habe ich 97 Länderspiele absolviert und an sieben Europameisterschaften teilgenommen. Leider haben wir es bislang erst einmal – 2013 – geschafft, ins Halbfinale einzuziehen. Unser großes Ziel ist deshalb weiterhin, das Finale der Europameisterschaft zu erreichen. Aber wegen der auch weltweit zu den besten Nationen zählenden Teams aus Frankreich und Spanien ist dies unheimlich herausfordernd. Ein weiteres großes Ziel ist die Teilnahme an den Paralympics. Seit 2004 in Peking ist Blindenfußball dort im Programm, aber leider hat es bislang nicht zur Teilnahme gereicht. Da wir uns für Tokio nicht qualifizieren konnten, heißt jetzt unser mittelfristiges Ziel Paris 2024.

Alexander Fangmann wurde 1985 im niedersächsischen Lohne geboren und wohnt heute in Stuttgart. Im Alter von acht Jahren erblindete er nach einer Netzhautablösung. Er ist von Klein auf ein begeisterter Fußballfan, vor allem der deutschen Bundesliga, wurde mit dem MTV Stuttgart bislang sieben Mal Deutscher Meister in der Blindenfußball-Bundesliga. Beim Bundesliga-Finale 2020 in Magdeburg gewann der MTV Stuttgart das Endspiel gegen den FC Sankt Pauli mit 3:0, wobei Alexander Fangmann alle drei Treffer erzielte. Alexander Fangmann bestritt bis dato 97 Länderspiele als Kapitän der deutschen Blindenfußball-Nationalmannschaft. 

[Fotos: Pressefoto Baumann & IMAGO / Hartenfelser & IMAGO / Jacob Schröter]