MEIN MOMENT | Der Faustball-Bundestrainer
  19.04.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 16. Folge geht es um Kolja Meyer, der sich als Faustball-Bundestrainer um den deutschen Nachwuchs kümmert.

Kolja Meyers Rückblick

In meiner Heimatstadt Vaihingen an der Enz – nicht zu verwechseln mit Stuttgart-Vaihingen – leben knapp 30.000 Menschen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass fast jeder Einwohner schon einmal von den TVV-Faustballern gehört hat. Es ist schon so, dass wir im Bewusstsein der Stadt tief verankert sind. Ich behaupte nicht, dass alle uns mögen. Aber wenn wir Gastgeber von Großveranstaltungen sind, dann sind die Hotels allesamt ausgebucht. Zudem sind wir hier die mit Abstand erfolg­reich­ste Sportart und entsprechend groß wird in der Lokalpresse über unsere Aktivitäten berichtet.

Faustball ist ein Rückschlagspiel mit zwei Mannschaften und je fünf Spielern auf dem Feld. In der Mitte gibt es eine Leine. Am ehesten ist es mit dem Volleyball zu vergleichen.  Im Gegensatz zum Volleyball ist das Feld aber größer und der Ball darf pro Spielzug jeweils einmal aufspringen, bevor der nächste Spieler der eigenen Mannschaft dran ist. Nach spätestens drei Berührungen muss der Ball ins gegnerische Feld geschlagen werden. Es gibt drei Positionen: Abwehr, Zuspiel und Angriff.

Obwohl ich in der Jugend in vielen Sportarten aktiv war – Schwimmen, Skifahren, DLRG und Leichtathletik –, kam ich irgendwann zum Faustball. Mein Vater Klaus war dabei nicht ganz unschuldig. Er stammt ursprünglich aus dem niedersächsischen Moslesfehn, einer echten Faustball-Hochburg. Schon früh feierten wir in der Jugend große Erfolge, nahmen reihenweise an Württembergischen, Süddeutschen und Deutschen Meisterschaften teil. Da es auch in den nachfolgenden Jahrgängen große Talente gab wie Marco Lochmahr, Michael Marx oder die Rothmaier-Brüder war es fast folgerichtig, dass irgendwann auch die Vaihinger Männermannschaft aufsteigen würde. In der Saison 2002/2003 war es soweit. Mit meinem Vater als Trainer traten wir erstmals in der 1. Bundesliga an und wurden mit 30:2 Punkten Erster der Süd-Staffel. Mit nur einer einzigen Niederlage reisten wir damals zur DM-Endrunde nach Kulmbach. Dort wurde es dann zwar nichts mit dem erhofften Medaillengewinn, aber dennoch konnten wir mit unserer Premieren-Saison im Oberhaus sehr zufrieden sein.

Eine Sache unterscheidet Faustball von anderen Sportarten. Bei uns gibt es eine Feld- und eine Hallensaison. Das kenne ich sonst eigentlich nur noch vom Hockey. Theoretisch kann ein Verein im Extremfall in der Halle in der Bundesliga und auf dem Feld in der untersten Liga spielen. Meist liegt einem entweder die Hallen- oder die Freiluft-Variante mehr. In der Halle ist das Spielfeld viel kleiner und die Abwehrmöglichkeiten sind – auf Grund der Hallenwände – begrenzt. Das kam unserer Spielweise sehr entgegen. Wir haben damals den „schnellen Preller“ erfunden und diesen Spielzug nahezu perfektioniert. Dadurch war der TV Vaihingen auch meist in der Halle um einiges erfolgreicher als auf dem Feld.

Dumm nur, dass die Nationalmannschaftsturniere ausschließlich auf dem Feld ausgetragen werden. Draußen wird mit einer anderen Spielweise agiert, was für mich meist ein Nachteil war. Zwar zählte ich in meiner Altersklasse stets zu den besten Angriffsspielern Deutschlands und wurde auch immer wieder zu Lehrgängen eingeladen, doch gab es dann im Aktivenbereich eben Spieler, die auf dem Feld einfach besser waren als ich. Im Vorfeld der Heim-EM 2008 bekam ich dann aber doch meine Chance. Aufgrund von Verletzungen anderer Spieler rutschte ich in den Kader, wusste zu überzeugen und nahm mit dem Nationalteam an der Europameisterschaft in Stammheim teil. Dort kam ich dann regelmäßig zum Einsatz und landete am Ende mit der Mannschaft auf dem dritten Platz.

Überhaupt war das Jahr 2008 ein sehr erfolgreiches für mich. Wieder reisten wir als Staffelsieger zur DM-Endrunde. Die fand diesmal in Aschaffenburg statt und endete für uns dank einem 4:1-Finalsieg gegen Hammah mit dem Titelgewinn. Viel erstaunlicher als diese Meisterschaft war dann aber der Titelgewinn im Sommer. Denn eigentlich war der TVV ja auf dem Feld nicht ganz so gut wie in der Halle. Bei der DM-Endrunde in Hirschfeld kamen wir dann aber ebenfalls ins Finale und setzten uns dort in fünf Sätzen gegen Rosenheim durch. Das Jahr 2008 bescherte mir persönlich somit zwei DM-Titel und die EM-Bronzemedaille.

Die Krönung folgte zu Beginn des Jahres 2009. Als Deutscher Meister durften wir im Europapokal der Landesmeister antreten. An diesem nehmen stets vier Mann­schaften aus den führenden Faustball-Nationen Deutschland, Österreich und Schweiz teil. Diese spielen an einem Wochenende den Titel aus. Die Endrunde fand bei uns in Vaihingen an der Enz statt. In heimischer Halle setzten wir uns zunächst im Halbfinale gegen den Titelverteidiger FBC ASKÖ Linz-Urfahr aus Österreich durch – und zwar glatt mit 4:0 Sätzen. Im Finale trafen wir vor ausverkauftem Haus auf den österreichischen Vizemeister TuS Kremsmünster, der ebenfalls mit 4:0 bezwungen wurde. Ohne Satzverlust waren wir Europapokal­sieger geworden. Wahnsinn! Für mich persönlich endete das Turnier mit einer weiteren Auszeichnung: Ich wurde zum besten Angreifer gewählt; die Auszeichnung „bester Zuspieler“ ging an unseren Kapitän Marco Lochmahr. Dies war sicherlich der schönste Moment in meiner Zeit als Spieler des TV Vaihingen.

2009 hatte für mich und drei meiner Vaihinger Mitspieler noch einen weiteren Höhepunkt parat. Faustball zählt zum Programm der World Games, den „Weltspielen der nicht-olympischen Sportarten“. Mit der deutschen Nationalmannschaft reisten wir in jenem Sommer nach Kaohsiung (Taiwan). Leider reichte es für uns damals nicht aufs Treppchen; das World-Games-Turnier gewann Brasilien. Auswanderer brachten die Sportart einst nach Südamerika und inzwischen zählt Brasilien zu den führenden Faustball-Nationen der Welt. Ich bin es ja gewohnt, dass ich Menschen erklären muss, was genau Faustball ist. In Kaohsiung habe ich gelernt, dass es noch andere nicht so bekannte Sportarten gibt. Zum Programm der Spiele gehörten u.a. Kanupolo, Korf­ball und Flossenschwimmen, Tchoukball war einer der Demonstrationssportarten.

Ähnlich erfolgreich wie das Jahr 2009 verlief aus meiner Sicht das Jahr 2012. Diesmal wurden die Deutschen Hallenmeisterschaften in der neuen Stuttgarter SCHARRena ausgetragen. Die Halle bietet rund 2.000 Menschen Platz und ist für eine Faustball-DM ideal geeignet. Nachdem klar war, dass der gastgebende TV Stammheim das Endspiel nicht erreichen würde, wurden wir auch von den TVS-Anhängern angefeuert. Das half uns, um uns im Endspiel mit 3:0 gegen Brettorf durchzusetzen und nach 2008 und 2011 (in Fredenbeck) zum dritten Mal Deutscher Hallenmeister zu werden. Zur Krönung gewannen wir im gleichen Jahr in Grafenau zum zweiten Mal nach 2009 den Faustball-Europapokal. Der TV Vaihingen war zu diesem Zeitpunkt in der Halle das beste Team Deutschlands und eine der besten Vereinsmannschaften weltweit.

Das änderte sich danach. Denn kurz darauf begann die Siegesserie des TSV Pfungstadt. Die Mannschaft aus Hessen gewann in den folgenden Jahren mit wenigen Ausnahmen auf nationaler Ebene alle Titel im aktiven Männerbereich. Das lag vor allem an einer Person – an Schlagmann Patrick Thomas. Vom Schlagmann hängt im Faustball einiges ab. Und Patrick Thomas ist eben ein absoluter Ausnahmespieler. Ich möchte mal behaupten, dass Patrick Thomas mit fast jeder Mannschaft Titel gewinnen würde. Bei seinem Können ist es eigentlich egal, wer in der Abwehr und wer im Zuspiel an seiner Seite steht.

Der TV Vaihingen spielte zwar in all den Jahren weiterhin in der Bundesliga, konnte aber an die Erfolge, die zwischen 2008 und 2012 gefeiert wurden, nicht mehr anknüpfen. Einzige Ausnahme war das Jahr 2019. Dort kamen wir bei der DM-Endrunde in Mannheim bis ins Endspiel, in dem wir uns dann dem TSV Pfungstadt glatt in drei Sätzen geschlagen geben mussten. Für mich war das der richtige Zeitpunkt, um meine Karriere als Spieler im Aktivenbereich zu beenden. Mittlerweile bin ich bei den Senioren aktiv, aber nicht mehr für den TV Vaihingen, sondern für den VfB Stuttgart. VfB-Abteilungsleiter Wolfgang Erhard hat mich und einige meiner ehemaligen Mitspieler in die Landeshauptstadt gelotst: Wir treten somit nun als Männer-35-Mannschaft für den größten Verein Baden-Württembergs an. Da in diesem Alter bei Meisterschaften auch Gastspieler aus anderen Clubs auflaufen dürfen, gibt es immer wieder Überraschungen bei den Titelkämpfen. So auch im September 2020, als wir bei der DM-Endrunde in Stuttgart-Vaihingen antraten und im Team des späteren Deutschen Meister TSG Tiefenthal einige bekannte Akteure von ihrem Zweitstartrecht Gebrauch machten. Immerhin setzten wir uns im Stadt-Duell gegen den NLV Stuttgart-Vaihingen durch und gewannen so die Bronzemedaille.

In all den Jahren, in denen ich Faustball gespielt habe, war es mir immer wichtig, mein Wissen weiter zu geben. So habe ich jahrelang Jugendmannschaften in Vaihingen betreut. 2016 entschied ich mich dann, eine andere Tätigkeit zu übernehmen; seither kümmere ich mich als Nationaltrainer um den deutschen Faustball-Nachwuchs. Ich teile mir diese Aufgabe mit Tim Lemke vom TV Brettorf. Wir agieren dabei gleichberechtigt auf Augenhöhe. Da der Verband jedoch einen Hauptansprechpartner wollte, haben wir geknobelt. Da ich bei „Schnick, Schnack, Schuck“ gewonnen habe, fungiere ich nun offiziell als Bundestrainer der deutschen U-18-Auswahl und Tim ist mein Stellvertreter. Geld gibt es für diesen Job keinen, aber viele schöne Erlebnisse – so zum Beispiel die EM-Titelgewinne 2017 in der Schweiz und 2019 in Hohenlockstedt (Schleswig-Holstein). Überhaupt kommt man als Nachwuchs-Bundestrainer ganz schön rum. 2018 fanden die Welttitelkämpfe in den Vereinigten Staaten statt. 2022 ist geplant, dass die U-18-WM in Neuseeland durchgeführt wird. Das zeigt, dass Faustball in immer mehr Ländern ausgetragen wird. Vielleicht wird die Sportart ja doch irgendwann einmal Teil der Olympischen Spiele.

Kolja Meyer lebt in Vaihingen an der Enz. Am dortigen Friedrich-Abel-Gymnasium arbeitet der Studiendirektor als Lehrer mit der Fächerkombination Physik, Chemie sowie Naturwissen­schaft/Technik. Zudem ist Meyer In Heilbronn als Dozent am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte tätig.

[Fotos: Pressefoto Baumann]