MEIN MOMENT | Der Erfinder des "Maute-Sprungs"
  21.06.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 25. Folge geht es um den Bundestrainer Dieter Maute.

Dieter Mautes Rückblick

Seit über 45 Jahren bin ich im Kunstradsport dabei, denn ich saß schon im jungen Alter von sieben Jahren erstmals auf einem Kunstrad. Dabei wird ein spezielles Fahrrad benutzt, das weder Bremse noch Schaltung oder Lichter hat, dafür aber eine starre Nabe, also einen „Rückwärtsgang“. Der Lenker ist so geformt, dass sich der Fahrer aufstützen oder daraufstellen kann und lässt sich zudem um 360 Grad drehen. Bei internationalen Wettkämpfen und Meisterschaften ist die Fahrfläche 14 mal 11 Meter groß und in der Mitte mit drei Kreisen gekennzeichnet. Im Wettkampf müssen die Sportler zuvor von ihnen festgelegte, maximal 30 Übungen in einer Kür von höchstens fünf Minuten möglichst fehlerfrei ausführen.

In meiner bis 1995 dauernden Karriere wurde ich fünf Mal Weltmeister im Einer-Kunstfahren: 1986 in Genk (Belgien), 1987 im dänischen Herning, 1993 in Hongkong, 1994 in Saarbrücken und 1995 in Epinal (Frankreich). Drei Mal holte ich WM-Silber, drei Mal wurde ich Junioren-Europameister und sammelte sechs Titel bei Deutschen Meisterschaften der Elite. Ende der Achtziger-Jahre lag die Weltspitze so eng zusammen, dass viele Kleinigkeiten am Ende entscheidend waren und oft nur der Zufall über die Reihenfolge im Endklassement bestimmte. Meine härtesten Konkurrenten aus dem eigenen Lager waren damals Harry Bodmer, viermaliger Weltmeister und heute Vizepräsident für Hallenradsport im Bund Deutscher Radfahrer (BDR), und Dietmar Ingelfinger, der einmal WM-Gold und dreimal Silber gewann.

Also habe ich überlegt, was ich machen könnte, um mir mehr Abstand zur Konkurrenz zu verschaffen. Eigentlich gab es schon alle möglichen Varianten von Übungen am und mit dem Rad. Dann kam mir die Idee: Es gibt noch kein Flugteil! Man könnte doch, mit beiden Füßen auf dem Fahrradsattel stehend, von dort nach vorne auf den Lenker springen! Rund eineinhalb Jahre Zeit steckte ich in die Entwicklung dieses Sprunges, probierte ihn, gesichert durch die Longe, in etwa 3.000 Sprüngen, bis er sicher genug und ohne hohes Verletzungsrisiko klappte. Bis zur endgültigen Wettkampfreife absolvierte ich anschließend bestimmt noch einmal so viele Sprünge – ohne Longe. Ich musste abschätzen: Welche Erfolgsquote kann ich erreichen? Im Wettkampf hatte ich ja das Problem, dass ich nur eine Chance habe, denn es war keine Korrektur möglich. Trifft zum Beispiel ein Basketballer beim Korbwurf nicht, hat er im Laufe des Spiels noch mehrere Möglichkeiten zu punkten, aber wenn mein Sprung misslang, bedeutete das den sicheren Sturz und das Aus in der Wertung – ich stand also unter einer enorm hohen mentalen Belastung. Andererseits würde mir der Sprung eine ganze Weile einen kleinen Vorsprung vor den anderen Fahrern bringen – war das das Risiko wert?

Zuerst musste die neue Übung jedoch vom Weltverband UCI genehmigt und bewertet werden, ehe ich sie im Wettkampf zeigen durfte – und das dauerte fast eineinhalb Jahre. 1993 wurde das nun „Maute-Sprung“ genannte neue Übungsteil dann endlich genehmigt – und ich gewann bis 1995 drei WM-Goldmedaillen in Folge! Mittlerweile zählt „mein“ Sprung bei den Männern zum Standard, wenn es um Medaillen geht.

Von 1992 bis 1996 studierte ich in Tübingen Sportwissenschaften und schloss das Studium als Diplom-Sportpädagoge ab. Anschließend leitete ich im Reutlinger Therapie- und Analysezentrum die medizinische Trainingstherapie. Schon ab 1997 erstellten mein Vater Manfred Maute, damals baden-württembergischer Landestrainer, und ich Lehrfilme über das Kunstradfahren, die von der UCI als offizielles Lehrmaterial eingeführt wurden. 2003 folgte ich meinem Vater als hauptamtlicher Landestrainer nach und arbeite seitdem auch als Honorar-Bundestrainer der Elite und hauptamtlicher Bundestrainer für den Kunstradsport für den BDR.

Das Einer-Kunstradfahren der Männer ist die älteste Disziplin im Kunstradsport. Schon 1892 wurden die ersten Wettbewerbe ausgetragen, ab 1928 gab es eine Europameisterschaft, und seit 1956 eine offizielle „Weltmeisterschaft“. Seitdem hat sich Kunstradfahren zu einer der vielleicht schwierigsten Hallensportarten entwickelt, deren Ästhetik sich am ehesten mit Kunstturnen oder der des Eiskunstlaufs vergleichen lässt. Doch was leicht und unbeschwert aussehen soll, fordert ein Höchstmaß an Körperbeherrschung, Koordinationsfähigkeit und eine gehörige Portion Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit, auch wenn Ästhetik und Eleganz das Erscheinungsbild prägen. Die Vielfalt der körperlichen Anforderungen in Kombination mit mentaler Stärke zeichnet den Kunstradsport aus.

Die mit Abstand erfolgreichste Nation bei den jährlich ausgetragenen Welttitelkämpfen ist Deutschland, hier fanden bislang 17 der 64 Weltmeisterschaften statt. Sieben Mal war eine Stadt in Baden-Württemberg Austragungsort einer WM: 1959 in Stuttgart, 1972 in Offenburg, bei den unvergessenen Titelkämpfen im Jahr 2000 in der an drei Tagen mit jeweils über 4.000 Zuschauern total ausverkauften Böblinger Sporthalle, in Freiburg 2005 sowie 2010, 2016 und jetzt vom 29. bis 31. Oktober 2021 in Stuttgart. Die Porsche-Arena ist damit bereits zum dritten Mal Gastgeber für Einer- (Männer und Frauen) und Zweier-Kunstradfahren (Frauen und offene Klasse), Vierer-Kunstradfahren (offene Klasse) und Radball. Dabei war die Porsche-Arena 2010 und 2016 mit 6.000 Zuschauern an jedem der drei Wettkampftage ausverkauft.

Die WM im Herbst in Stuttgart war ursprünglich für 2020 geplant, doch Corona machte eine Verschiebung notwendig. Natürlich war ich – wie die Sportler auch – enttäuscht, aber mit dieser Verschiebung war zu rechnen. Die Titelkämpfe hätten einen gewissen Makel gehabt, wenn vielleicht nur 10 anstatt 20 bis 25 Nationen dabei gewesen wären. Es tat mir einfach leid, dass die Aktiven nicht zeigen konnten, was sie sich antrainiert hatten. Aber letztendlich hat die Vernunft gesiegt, und der Gefahr von Ansteckungen wurde vorgebeugt. Die Vorbereitung jetzt auf dieses Highlight in Stuttgart läuft einigermaßen „normal“, die Lehrgänge finden in Albstadt-Tailfingen statt. Die Nationalkader wohnen im Hotel, nicht in der Sportschule, und sind zum Training in zwei Hallen verteilt, weil dort im Moment ja keine anderen Sportler aktiv sein dürfen.

Seit drei oder vier Jahren findet eine Woche vor einer WM das Weltcup-Finale statt, bei dem Deutschland drei Starter stellen kann. Da einer der Qualifizierten mein Sohn Max ist, haben wir schon im vergangenen Jahr gesagt, das machen wir in Albstadt-Tailfingen. Hier sind zwischen 800 und 900 Zuschauer möglich. Auch hierfür laufen die Planungen, natürlich immer mit dem entsprechenden Unsicherheitsfaktor. Aber wir erarbeiteten Hygienekonzepte für drei Szenarien, und insgesamt bin ich sehr zuversichtlich, dass alles klappt!

Immer wieder kocht die Frage „Kunstradsport und Olympia“ hoch – ein ganz, ganz schwieriges Thema. Dabei handelt es sich aus meiner Sicht um eine Diskussion auf politischer Ebene, denn ich bin überzeugt, dass ein „Dabeisein“ unter den fünf Ringen möglich wäre, wenn die UCI dies wirklich wollte und unterstützen würde. Aber ehrlich gesagt bin ich da etwas zwiegespalten, denn unsere Sportart ist sehr familiär geprägt und noch rein intrinistisch motiviert betrieben. Zwar haben wir, finanziell gesehen, sogar für unsere Spitzenathlet*innen amateurhafte Strukturen, aber natürlich dennoch einen professionellen Trainingsaufwand und hochprofessionelle Leistungen, und man benötigt 12 bis 14 Jahre, um an die Weltspitze zu kommen!


Dieter Maute wurde in seiner aktiven Laufbahn bis 1995 fünf Mal Weltmeister im Einer-Kunstradfahren und ist seit dem 1. Januar 2003 hauptamtlicher Landestrainer in Baden-Württemberg und Honorar-Bundestrainer im Bund Deutscher Radfahrer (BDR) für Kunstradsport. Er wurde in Albstadt-Tailfingen geboren und wohnt mit seiner Frau in Albstadt-Ebingen. Sein Sohn Max (22), ebenfalls ein erfolgreicher Kunstradfahrer, studiert in Konstanz Sport- und Eventmanagement. 1995 erhielt Dieter Maute von Bundespräsident Roman Herzog das „Silberne Lorbeerblatt“, die höchste Auszeichnung für einen Sportler in Deutschland. 2010 wurde er vom Landessportverband Baden-Württemberg (LSVBW) als „Trainer des Jahres“ ausgezeichnet.

[Fotos: Pressefoto Baumann]