BIG IN JAPAN | Tom Bloch schreibt für die SportRegion
  26.07.2021


Mit großen Augen, Kamera, Notizbuch und Stift sowie seinen unübersehbaren 2,08 Meter Körpergröße ist der Stuttgarter Sportjournalist Tom Bloch vor Ort in Tokio bei den Olympischen Spielen und berichtet exklusiv für die SportRegion Stuttgart in seiner Serie BIG IN JAPAN. Die ersten Folgen sind inzwischen online.

Folge 1: Die erste Goldmedaille ist vergeben

Ta-tata-taaa! Die erste Goldmedaille geht an das Wasserball-Team aus Kroatien. Persönlich verliehen von mir. Noch auf dem Frankfurter Flughafen, bevor die Spiele überhaupt offiziell begonnen haben.  Zur Zeremonie kam es folgendermaßen: Nach Anflug aus Stuttgart, Terminalwechsel und Passkontrolle, ist mein Reisepass, obwohl nun wirklich mit Bedacht korrekt verstaut, irgendwie dann doch aus der Tasche gerutscht. Unbemerkt. Irgendwo auf dem Weg zum Gate 52. 

Am Gate verlangte das Personal bereits zum zweiten Mal die Einsicht in sämtliche von den japanischen Behörden verlangte Unterlagen, bevor das Boarding überhaupt beginnen konnte. Und zu diesen Unterlagen gehört nun mal als zentrales Dokument der Reisepass, dessen Nummer schon längst auf zwei PCR-Tests prangt, in drei japanischen Online-Datenbanken sowie in zwei nur teilweise funktionierenden Apps hinterlegt ist. Schon längst hat man in diesem Bürokratie-Zehnkampf-Marathon die Übersicht verloren. Und jetzt also auch noch den Pass. Damn. 

Doch zwischen aufgelöst und erlöst sein, liegen keine 45 Sekunden. Doch zuerst: Panik. Von wegen „Big in Japan“. Very small in Frankfurt. So klein. Mit Hut. Bis ein freundlicher Wasserballer des kroatischen Teams entdeckte, wie ich am Boden in all meinen Taschen wühlte. Er fragte, ob ich meinen Pass verloren hätte, denn er hätte gerade einen gefunden und diesen gleich vorne am Schalter abgegeben. Was für ein Held! Ich bedanke mich überschwänglich und eile zum Schalter. Während die Dame telefonierte, wedelte ich mit meinem Personalausweis herum und ermöglichte ihr während des Telefonates die Überprüfung des rechtmäßigen Besitzers. Da is das Ding! Wieder in meinem Besitz.

Eine Stunde später, ich sitze im Flieger, hinter mir wird es laut. Drei durchtrainierte Schränke in Weiß-Rot erobern ihre Plätze. Wasserball-Trainer aus Kroatien. Ich erzähle die Geschichte und bedanke mich erneut. Außerdem verleihe ich Ihnen nun mündlich die erste Goldmedaille, für Aufmerksamkeit, für Mitdenken für Freundlichkeit, für den olympischen Spirit eben.

Weitere sieben Stunden später verteilte das Bordpersonal neue japanische Einreiseunterlagen. Und wieder trage ich mit stoischer Ruhe alle Daten ein, zum wiederholt wiederholten Mal. Aufenthaltsdauer, Hotel, Flugnummer, Reisepassnummer, Telefonnummer. Was auf Papier auch viel besser geht. Die Felder in den Online-Formularen lassen bei der vorgeschriebenen Telefonnummer, unter der man rund um die Uhr erreichbar sei muss, nur elf Zahlen zu. Und kann nur eingetragen werden, wenn man die Ländervorwahl weglässt. Nun ja. Eine Medaille für Bürokratie-Bewältigung wäre eigentlich auch langsam fällig. 

Vom Meer hereinfliegend sanfte Landung. Tokio Haneda. Sitzenbleiben! Flinke Damen der japanischen Einwanderungsbehörde entern die Langstreckenflieger und verteilen ein weiteres Dokument, das man ausfüllen soll und dabei feststellt, dass man es schon längst ausgefüllt hat. Aber nach einer weiteren halben Stunden dürfen wir dann den Flieger verlassen.

Und nach weiteren drei Stunden Schnitzeljagd durch das Flughafengebäude mit den verschiedensten Stationen hängt sie dann endlich um den Hals (und verdeckt die Schweissränder auf meinem Polo-Shirt), die offizielle Akkreditierung. Ich bin drin im „Olympic Bubble“.

Also von mir aus können die Spiele beginnen.

 

Folge 2: Lost in Translation

Wen wundert’s? Die japanische Sprache hat nun wenig mit Schwäbisch-Deutsch gemeinsam. Dass bei internationalen Veranstaltungen sowieso hauptsächlich Englisch gesprochen wird, hilft uns in diesem Moment auch nicht viel weiter. „How may I help you?“ ist ein Satz, den wohl alle, wirklich überaus freundlichen Volunteers in Tokyo perfekt sprechen können. Allerdings ist es ratsam, auf diese Frage eher keine Antwort zu geben. Ansonsten löst das zumeist eine wahrlich freundlich gemeinte, aber doch eher im Chaos endende Aktion aus. Beispiel: Der Busfahrer weiß zwar, wo er sein Gefährt anhalten soll, aber nicht, welche Sportart in dem hinter der Haltestelle befindlichen Gebäude stattfindet. Die an der Bushaltestelle positionierten Volunteers, die die Aussteigenden überaus freundlich begrüßen, wissen es allerdings auch nicht. „How may I help you?“

Nicht dass das jetzt als Kritik rüberkommen soll. Wer bei Olympia arbeiten will, muss eben einen gehörigen Einsatz an Selbstorganisation bringen. Und ist dann weitaus besser dran, als nachzufragen. Wissen ist Macht.

Und überhaupt. Es gibt da einen für japanischen Verhältnisse riesigen Stuttgarter Sportjournalisten, der weitgereist und erfahren, mit einem selbstbewussten „Hi!“ die stets sich verbeugenden Japaner zurückgrüßt. Obwohl er weiß, dass „Hai“ auf Japanisch „Ja“ heißt.

Ja, statt Hallo, ich meine, wie ist denn der drauf? Ja. Ja. Ja. 

Getoppt wird das Ganze nur von meinem Freund, dem Volunteer, der den ganzen Tag an der Bushaltestelle steht, die zu meinem Hotel gehört. Der freut sich jeden Abend, mich wieder zu sehen, und begrüßt mich mit einem überschwänglichen, fast gesungenen „Sank-you, Sank-youuuuuu!“. Heute haben wir sogar abgeklatscht. High Five mit Big in Japan sozusagen. Man kann sich nun wirklich auch ohne große Worte verständigen.

Nur, warum der eine Shuttle-Bus an der MTM, der Media Transportation Mall, die Aufschrift „FKK“ trägt, das habe ich noch nicht herausgefunden.

„How may I help you?“. Nein, ich frage es nicht. 

 

Folge 3: Sushi und Sakura

Die Olympischen Spiele sind zweifelsohne das größte Sportereignis der Welt. Für die begleitende Journaille auf jeden Fall. Dabei sein ist alles. Doch um dabei zu sein, muss man erst einmal hinkommen. Und das geht so: Der Nabel der olympischen Fortbewegungswelt ist die MTM, die Media Transportation Mall. Nahezu rund um die Uhr zirkulieren Reisebusse und sammeln Fotografen, Kameraleute und Redakteure an Haltestellen bei ihren Hotels ein und fahren diese zur MTM. Dort können die Fernseh-Menschen nach der Ankunft direkt ins IBC (International Broadcast Center) laufen, in dem die ganzen TV-Anstalten ihr temporäres Zuhause haben.

Oder man steigt in das Shuttle zum MPC (Main Press Center). Oder man steigt in die Busse, die zu den vielen Wettkampfstätten fahren. Ein ausgeklügeltes System mit Fahrplänen, die akkurat eingehalten werden. Und während man in der Bruthitze warten muss, steht man wie Hunderte von Volunteers, die den menschlichen Verkehr an den riesigen vier Bahnsteigen regeln, in der prallen Sonne. Auf der Suche nach ein wenig Schatten, oder dem Auslass von den wenigen stationären Klimaanlagen. Viel Warte- und Reisezeit gehört einfach dazu. Meine Aufgaben hier vor Ort für Beachvolleyball (im Shiokaze Park) und Volleyball (in der Ariake Arena) zwingen mich zum Pendeln (in Bussen, in den ich weder stehen noch hinter der Lehne sitzen kann). Das bedeutet im Schnitt täglich zehn bis 15 Kilometer zu Fuß, weil auch die Laufwege in der Halle oder im Park enorm lang sind. Und dabei stets knapp 30 Kilogramm Equipment mitschleppen.

Bei 35° C und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit ist dann schnell keine Textilfaser am Leib mehr trocken. In diesem speziellen Berufsverkehr erlebt man die internationalen Kollegen auf die verschiedensten Arten und Weisen. Fotografen nutzen den Transfer und bearbeiten ihre Fotos auf dem Laptop, Redakteure hacken ihre Texte in die Tasten. Oder man zückt das Smartphone und bucht sich für den nächsten Tag für die kommenden Veranstaltungen ein. Dies ist zwingend und soll die Journalisten-Ströme in Zeiten von Corona lenken.

Für mich als IT-Unwissender unbegreiflich, aber extrem beeindruckend, ist die komplette Vernetzung der möglichen Aufenthaltsorte mit dem Internet. Einmal eingeloggt, funktioniert das WLAN in den Bussen. Einmal eingeloggt, funktioniert das WLAN an jeder Wettkampfstätte, natürlich im MPC, und auch auf dem großen MTM. Und so nutzen Kollegen die Busfahrt auch mal zu einem Video-Telefonat mit Zuhause, und streamen so Bilder aus Tokio wie bei einer Stadtrundfahrt live zu den Lieben daheim.

So ein WLAN könnte ja zum Beispiel „Tokyo2020“ heißen, was nahelegend wäre. Doch die IT-Abteilung war eine Nummer kreativer: Das WLAN im MPC und den Veranstaltungsstätten heißt mit Verweis auf die Kirschblüte, für die Japan berühmt ist, „SAKURA2020“.

Das WLAN in den Bussen wurde „SUSHI 2020“ genannt. Und mit fortschreitenden Veranstaltungstagen nutzen immer mehr Journalisten die Busfahrten für ein Nickerchen. Manche überhaupt nicht lautlos. Das ist dann „SCHNARCHEN2021“. Und Kennwort-frei.

Mehr Infos: https://www.sportregion-stuttgart.de/big-in-japan