Weihnachtsgeschichte | Die gute Seite der Niederlage
  20.12.2021


An der Vielfalt des Sports verzweifelte ich frühzeitig. Du kapierst schnell, dass in jeder sportlichen Ambition eine Hinterhältigkeit lauert, und zwar in jedem Fall. Entweder du verlierst gleich. Oder du bist erfolgreich und erhöhst damit die Fallhöhe der nächsten Niederlage. Zimperlich darfst du in keiner Sportart sein.

Im Erfolg lauert die größere Gefahr. Jeder Sieg zögert eine Niederlage hinaus, die zwangsläufig folgen muss. Je mehr du gewinnst, umso schöner kannst du dich anschließend blamieren. Insgesamt eine Geschichte, bei der du am Ende nur verlieren kannst. So vielfältig die sportlichen Disziplinen sind: Du lernst verlieren. Warum das am Ende für dich zum großen Vorteil wird, dass erfahren junge Hüpfer erst mit der Verzögerung einiger Jahrzehnte. Oder überhaupt nicht. Aber dazu später. Am Ende ist es eine der wichtigsten Inhalte jeden Sports: Verlieren lernen. Und das ist gut so. Besser du lernst es früher im Sport als später in der Liebe. Was nicht bedeuten soll, dass die kampferprobten Herzklappen der Sporttreibenden Liebeskummer besser wegstecken.

Vaters unsichtbare Luftmatratze

Als Kind weißt du ja nicht, worauf du dich einlässt, wenn du deinem Bewegungsdrang nachgibst. Im Alter von ungefähr fünf Jahren konnte sich mein gesamtsportliches Palmarès noch sehen lassen: Beim Völkerball kaum zu erwischen. Beim Weitsprung mit einem Satz vom Brett die Grube getroffen. Auf dem Bolzplatz vom Balljungen zum wählbaren Stammspieler aufgestiegen. Trotz der frühen Meriten fiel mein Bewegungstalent jedoch abrupt ins Wasser. Im wörtlichen Sinne. Ohne mich mental vorzubereiten, wurde ich elterlicherseits mit der Tatsache konfrontiert, dass es höchste Zeit sei, Schwimmen zu lernen Mir dämmerte bald: Schwimmenmüssen ist der Tod jedes Plantschendürfens. Und wie bitte? Schwimmen soll Sport sein – nicht euer Ernst, oder?

Vater argumentierte, dass Schwimmen Spaß machen würde, wenn man es könne. Mutter mahnte, dass ich eines Tages jämmerlich ertrinken würde, wenn ich nicht gefälligst lernte, mich anständig über Wasser zu halten. Die Angelegenheit stellte sich als alternativlos dar. Mein Vater packte die Sache konstruktiv an. Also vom gewünschten Ergebnis her. Er schwamm. Als hätte er eine Luftmatratze um den Bauch geschnallt. Ich sollte das nachmachen. Also so ähnlich. Ich strampelte und trat hektisch in den nicht vorhandenen Boden. Vaters Eleganz hatte sich nicht vererbt. Ich strampelte zusehends verzweifelter. Der väterliche Trainer verzweifelte ebenfalls. Es war zum Heulen: Ich konnte Völkerball und Weitsprung. Ich pfefferte eine Indiaca übers Netz und stand am Beginn einer beispiellosen Karriere als Fußballprofi. Aber meine Eltern bestanden auf Schwimmen. Das Leben war offenbar ein moderner Fünfkampf. Es war der Sport, der mir beibrachte, dass die Disziplinen, die mir Spaß machten, nicht ausreichen würden, um durchs Leben zu kommen. Völkerball schon gar nicht.

Von Ballonspringen bis Ski-Ballett

Dabei ist es sehr wohl möglich, dass Disziplinen aussterben. Untergegangene Disziplinen füllen inzwischen eine skurrile Enzyklopädie. Im Großen und Ganzen sind folgende drei Ursachen für sportliches Artensterben verantwortlich: Erstens Grausamkeit, zweitens Gefahr und drittens Lächerlichkeit. Man atmet förmlich auf, dass sich kaum jemand an Aalziehen, Schweinestechen, Katzenkopfstoßen oder Fuchsprellen erinnert. Soweit zur Grausamkeit. Nicht viel besser sieht die Sache aus, wenn keine Tiere sterben, sondern die Sportlerinnen und Sportler selbst. Beispielsweise beim Ballonspringen. Mit einem Heißluftballon im Rücken lassen sich zwar große Sätze machen, aber auch Bruchlandungen. Der Superstar im Ballonspringen beendete anlässlich eines Sprunges durch eine Hochspannungsleitung Karriere und Leben. Die Sportart versandete am Ende der Zwanzigerjahre. Von Blitzschlag und anderen Todesfällen sollten sich auch Wasserfallreiten und Feuerwerksboxen nie wieder erholen. Pfeil-und-Bogen-Golf spielte man in Amerika bis in die Siebzigerjahre. Allerdings stets mit dem Risiko, Mitspieler und Zuschauer zu perforieren, falls ein Pfeil sein Ziel verfehlte. Die Gesundheitsämter verboten die Sache.

Schließlich sind Sportarten wegen Lächerlichkeit untergegangen, zum Beispiel Breiwettessen (heiß serviert) oder Telefonzellenstopfen, ein Teamsport, der in den Fünfzigerjahren in Südafrika populär war. Selbst olympische Sportarten starben an Lächerlichkeit. Bei den Spielen 1900 wurden Medaillen im Hindernisschwimmen vergeben. Man wundert sich fast, dass RTL2 die Disziplin noch nicht ausgegraben hat. Jüngstes Beispiel einer wegen Lächerlichkeit untergegangenen Sportart ist Skiballett. Für alle, die ihm nachtrauern: Das Netz vergisst nichts. Dort lassen sich beispielsweise Aufnahmen von Alan Schoenberger finden, insbesondere seine magische Kür zu Bachs Menuett in G-Moll, mit der die Skiballettsaison 1975 in Vermont eröffnet wurde. Ein früher Torwell-Dean-Moment.

Aus eben diesem Jahrzehnt datieren meine ersten verzweifelten Schwimmversuche. Hätte ich schon Bescheid gewusst, mein Vater hätte unbedingt einsehen müssen, dass die Schwimmversuche seines Sohnes alle drei Faktoren erfüllten, die dem Schwimmen als Sportart den Garaus machen können. Alles war vorhanden: Grausamkeit, Gefahr und Lächerlichkeit. Mein Sportlerpech war es, dass Millionen Menschen die Schwimmerei bereits beherrschten. Es hätte meinerseits einer Leistungsexplosion bedurft. Sie blieb aus. So gesehen war das Schwimmen die erste Sportart, bei der ich die Vielfalt des Sports von seiner gewöhnlichen Seite erlebte. Aus der Perspektive eines Versuchenden, eines Lernwilligen, eines Eifrigen, aber Scheiternden. Aus der Perspektive eines Anerkennenden, eines Sportlers, der sich der Tatsache nicht verschließt, dass es Andere so viel besser können. Ich erkannte das wahre Wesen aller Sportarten. Man kann es nur aus der Perspektive eines Verlierers wahrnehmen. Dem Sieger ist die Sicht verstellt. Sein Siegesrausch trübt die Erkenntnis.

Lieblingsscheitern

Der Stuttgarter Schriftsteller Heinrich Steinfest hat dem Verlieren im Sport ein eigenes Kapitel gewidmet. Es ist das längste Kapitel seiner „Gebrauchsanweisung fürs Scheitern“, in dem er neben blankem Unglück auch das Scheitern in Fragen der Kleidung und der Liebe sowie das Versagen am Herd, in der Kunst und den spirituellen Misserfolg behandelt. Steinfest ist gebürtiger Österreicher. Er weiß, wovon er schreibt, wenn es um Niederlagen geht. In seiner Heimat wird ein Sieg bei einem bedeutungslosen Zwischenrundenspiel noch fünfzig Jahre später als „Wunder von Córdoba“ gefeiert. Jedoch lässt sich an der österreichischen Nation beispielhaft erkennen: Verlierer können ausdauernd feiern und zwar schöner, länger und besser als die Sieger. Dagegen erscheint das olympische „Schneller, höher, weiter“ engstirnig und freudlos. Autor Steinfest führt als Lieblingsscheitern einen wochenlangen Versuch an, im Tischtennis gegen einen chinesischen Penholderspieler mit rheumatischen Bewegungen zu gewinnen.

Steinfest traf ihn auf einer China-Reise am Rande eines Wochenmarktes. Dort hatte Mr. Ku eine Platte aufgestellt. Er kassierte Geld von jedem, der gegen ihn antrat. Ein Kirmes-Pingpongspieler. Mr. Ku gab die Regeln vor. Gespielt wurde bis 21. Der Gegner brauchte lediglich 5 Punkte, um zu gewinnen. Aber Ku verlor nicht. Niemals – zumindest nicht in den Tagen, in denen der Steinfest Kus Kirmestischtennis beobachtete. Auch Steinfest versuchte sich. Doch lediglich mit ambitioniertem Freizeitniveau ausgestattet konnte er die Ku’sche Mischung aus Matchstrategie, Schlagtechnik und Belag nicht im Ansatz entschlüsseln. War Betrug im Spiel? War die Platte gepimpt? Der österreichische Herausforderer hat es nie erfahren. Ein Scheitern ist ein Scheitern bleibt ein Scheitern. Eben drum ist Steinfests Buch über mannigfaltige Niederlagen ungleich lesenswerter als Mr. Kus Anleitung zum Gewinnen eines Pingpongspiels. Ein Buch, das er freilich nie geschrieben hat.

Nichts motiviert mehr als Niederlagen

Höchste Zeit, den Fokus auf den höheren Sinn des Misserfolgs zu lenken: Niederlagen sind eine Kraftquelle. Genau aus diesem Grund wird ein solches Bohei um Goldmedaillen, Triumphe und Weltrekorde gemacht. Die Bewunderung gilt weniger dem Sieg an sich. Sondern dem Weg und dem Wegstecken der Niederlagen, die den Gang aufs Siegerpodest gepflastert hatten. Die Ehre des Siegers bleibt der lichte Ausnahmemoment in einem Meer an Doch-Nicht-Gewinnerinnen und Fast-Siegern. Der Normalfall ist ein Anderer: Das Gefühl, es nächstes Mal besser zu machen, treibt uns mehr an als jeder Triumph. Zweite, dritte oder letzte Plätze zu erringen, Niederlagen, Fehlschläge und Blamagen hinzunehmen, auch darin hat der Sport eine enorme Vielfalt entwickelt. Ihre Schlüsselszenen sind Kantenbälle, Eigentore, versemmelte Großchancen und unbegreifliche Punktrichter-Urteile. All das zu akzeptieren, wieder aufzustehen und mit noch größerer Motivation weiterzumachen, darin liegt die eigentliche Schule des Sports. Weit übers Spielfeld hinaus.

Wer dafür den Blick öffnet, kommt kaum an Dauersiegern wie Boris Becker und Lothar Matthäus vorbei. Becker war 17, als er als Ungesetzter Wimbledon gewann. Plötzlich Nationalheld. Martin Walser dichtete ihm mythische Flügel am Rücken an. Dabei hätte gerade Walser wissen müssen, dass es nicht gut ausgeht. Der Schriftsteller wurde für seine Heldenfiguren gerühmt, die an inneren Konflikten und anderen selbstverschuldeten Schicksalen scheitern. Walser meinte, an Becker Züge von Heiligenfiguren zu erkennen. Der Shootingstar erinnere ihn an Malereien von Fra Angelico. Für Boris-Altarbilder müsse man „Wimpern malen können, rötliche und rein blonde; und die oberen verhaken sich fast mit den unteren.“ Das konnte nicht gut gehen. Bis zum heutigen Tag gilt Becker als einer, der an die Größe seiner eigenen Wachsfigur im richtigen Leben nie heranreichte.

Von Helden lernen

Stattdessen etablierte sich Becker als Scheidungsexperte. Er versuchte sein Glück am Pokertisch und gab ein Zwischenspiel als Fast-Attaché der Zentralafrikanischen Republik. Letzteres ein Versuch, einem Insolvenzverfahren zu entgehen. Immerhin: Selbstironie und Humor waren stets auf seiner Seite. Der grundsympathische Becker bewies stets die Fähigkeit über sich zu schmunzeln. Einem Lothar Matthäus fehlt dieser Abstand zur eigenen Person in jeder Phase seines Schaffens. Man muss es bedauern. Der große Kapitän erschien selbst im Erfolg als latenter Besserwisser. Als Trainer wurde ihm nachgesagt, dass sogar die Putzfrau von Rapid Wien über seine Entlassung erleichtert war. Der fränkische Angeber hat jede seiner Selbst-Nominierungen ernst gemeint, mit denen er sich für den Posten des Bundestrainers ins Spiel brachte. Siege, Pokal und Ehrentitel können einen Charakter deutlicher verformen als jede Niederlage. Autor Holger Gertz ist fasziniert von der Vielfalt sportlicher Niederlagen. Er schreibt: „Der Verlierer ist spannender als der Gewinner. Er muss darüber nachdenken, was die Niederlage mit ihm macht.“ Um es mit Becker und Matthäus zu sagen: Hintere Plätze in sportlichen Wettbewerben bringen einem bei, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Trotzdem kann die Motivation, ausnahmsweise vordere Plätze zu erreichen, Berge versetzen und Schwimmflügel überflüssig machen. Zum dritten Schuljahr wurden wir Auricher Schüler zur größeren Schule der Nachbargemeinde gekarrt. Mich störte vor allem daran, dass die Nussdorfer Grundschule ein kleines Schwimmbecken hatte. Gut, dass es so winzig war. Ich hätte auch ein großes leer getrunken, beim Versuch vernünftige Schwimmzüge aufs Wasser zu zaubern. Dass ich es schlussendlich lernte, ist vor allem der Tatsache zu verdanken, dass ich Schwimmbretter als extrem uncool empfand. Schwimmen lernte ich nicht, weil ich es wollte. Es war der soziale Druck, dem ich nichts entgegen zu setzen hatte. Trotzdem: Die Welt außerhalb des mickrigen Chlortümpels interpretierte ich weiterhin als riesigen Sportplatz. Ein Ball? Meiner! Ballverlust? Geht gar nicht. So funktionieren viele Sportarten. Ein ausdauernder Kampf, das Unvermeidliche abzuwenden. Gegen den Ballverlust. Gegen die Uhr. Gegen die Schwerkraft. Gegen den inneren Schweinehund.

Welche Sportarten eignen sich eigentlich besonders, um den Charakter mit kontinuierlicher Zufuhr an hilfreichen Niederlagen zu stärken? Der Sportwissenschaftler Klaus Willimczik hat sich aus Sicht der Definitionslehre mit der uferlosen Vielfalt der Möglichkeiten befasst. Seine Systematik legt ein stabiles Fundament für eine solche Betrachtung. Der ehemalige Deutsche Meister über 110 Meter Hürden befragte Sportlerinnen und Sportler aus vielen Disziplinen, aus allen Altersgruppen, aus Leistungs- und Amateursport. Als Ergebnis erhielt der Wissenschaftler eine Einteilung in sechs Gruppen: Hochprofessioneller Leistungssport, Traditioneller Sport, Sportnahe Hobbys, Präsentationssport, Erlebnissport sowie Gesundheitssport.

Die Vielfalt aller möglichen Niederlagen

Großartige Fehlleistungen entstehen in wundervoller Zuspitzung in der Sportarten-Gruppe 1 Professioneller Hochleistungssport – unter anderem beim Autorennen, im Basketball oder im Fußball. Jede schlechte Platzierung kostet, denn der Sieg ist ein Wirtschaftsfaktor. Eigentore, andere Unfälle und amateurhafte Missgeschicke werden von Medien genüsslich in Superzeit­lupen zerlegt. Alle Blamagen live! Andererseits gehört es zum Berufsport dazu, professionell mit Niederlagen umzugehen. Der Job als Marketing-Botschafterin oder -Botschafter duldet keine Schwäche. Bei den Sportarten dieser Gruppe lohnt auch der Blick auf die Zuschauer. Wer nicht zu Bayern München hält, spürt mit steter Regelmäßigkeit am eigenen Leib, woraus das Wesen eines Fans besteht. Nämlich daraus, mit den völlig unvorhersehbaren Niederlagen umzugehen. Fans erwarten keine Niederlagen. Der gute Fan erwartet Siege, übrigens in vollendeter Übereinstimmung mit seinen Heldinnen und Helden. Doch jeder Fan weiß, dass es anders kommen wird. Wochenende für Wochenende.

Zurück zum aktiven Sport. Die sogenannten Traditionellen Sportarten der Gruppe 2 unterscheiden sich von Gruppe 1 durch die mediale Inszenierung. Man mag es bedauern. Leichtathletik, Ringen und Bogenschießen fallen in diese Gruppe. Viele tauchen nur alle vier Jahre in den Medien auf, eben zu den Olympischen Spielen oder einer zweifelhaften Inszenierung, die sich dafür hält. In dieser Gruppe 2 befinden sich zwar Sportarten, die in der Leistungsspitze durchaus höchste Professionalität erreichen. Den Unterscheid zur Gruppe 1 sieht Willimczik vor allem in der inneren Motivation, die die Sportlerinnen und Sportler antreibt. Der intrinsische Antrieb verstärkt in vielen Fällen die Wucht, mit der eine Niederlage zuschlagen kann. Wo schlechte Platzierungen nicht professionell abmoderiert werden, kann die Enttäuschung nachhaltiger wirken. Das ewige Mantra, niemals aufzugeben, wird in diesen Disziplinen besonders hochgehalten. Im Englischen sagt man, Sport wäre characterbuilding.

In den folgenden Gruppen von Sportarten nehmen die Möglichkeiten ab, verheerende Niederlagen zu erleiden – bis hin zur letzten Gruppe, in der man nur noch gewinnen kann. Willimzcik definiert in Gruppe 3 Sportnahe Hobbys wie Angeln, Schach und Jagen. Misserfolge werden durch gefallene Könige oder Null-Ergebnisse zwar schonungslos dokumentiert. Doch die Konsequenz bleibt überschaubar. Bei einzelnen Sportarten beeinflusst pures Glück den Ausgang. Der Verweis auf den Zufall lindert die Tiefe jeder Niederlage. Die Kunst des Loosers besteht lediglich darin, die Dinge so zu deuten, dass sie nicht als schlechte Ausrede erscheinen.

In Gruppe 4 werden die Gelegenheiten noch seltener, sich als Sportlerin oder Sportler als Verlierer zu fühlen. Im künstlerischen Showsport oder Präsentationssport, wie es der Wissenschaftler nennt, verhindern Ästhetik, Kreativität, Fantasie und die unterschiedlichen Vorstellungen davon, dass ernsthaft von Niederlagen die Rede sein kann. Wer gut ist und wer nicht, bleibt stets eine Sache des persönlichen Geschmacks. Wie schön! Tanzen, Jonglieren oder Voltigieren gehören zu diesen Sportarten.

Ähnliches gilt für Erlebnissportarten (Gruppe 5) wie Bergsteigen, Tauchen oder Ultraläufe und im extremen Maße für Gesundheitssport (Gruppe 6) wie Yoga, Tai Chi oder Rückenschule. Je weniger Wettkampfcharakter, desto überflüssiger wird die Klassifizierung in Sieger und Platzierte. Trotzdem Sport zu treiben – so gut, wie man eben kann, egal welche Sportart – darin besteht die Erkenntnis, von der am Anfang die Rede war. Manche benötigen Jahrzehnte, um zu verstehen, dass beim Sport alle gewinnen. Am schönsten ist Sport meistens, wenn es um die goldene Ananas geht.

Die Sinnmitte jeder sportlichen Ambition

Für diese Einsicht haben die Briten das sogenannte Sportsmanship geprägt. Der Begriff beschreibt eine für alle Sportlerinnen und Sportler vorbildliche Verhaltensweise. Er ist schwer zu übersetzen, unter anderem weil er auch Sportsfrauen einschließt. Sportsmanship geht über Fairplay hinaus, das häufig als Code für faires Verhalten im Wettkampf verstanden wird. Sportmanship bezieht auch das Umfeld ein. Also das Davor und Danach. Es geht dabei um umfassenden Respekt für den Sieger, seine Person und seine Leistung. Sportsmanship fordert von allen Beteiligten, den Sport so zu organisieren und auszuüben, dass er der Gesellschaft zum Vorbild gereicht.

In der digitalen Gesellschaft ist der gemeinsame Sport ein zentrales Bindeglied geworden. Im Sportverein trifft man sich schichten- und milieuübergreifend. Es treffen sich Menschen, die in unterschiedlichen Stadtteilen wohnen, deren Kinder in unterschiedliche Kitas und unterschiedliche Schulen gehen. Der Sport, am besten im Verein, bringt sie zusammen: Begabte und Minderbegabte, Arme und Reiche, Teamplayer und Einzelkönner, Einheimische und Neuhinzugekommene, Schwimmerinnen und Schlechtschwimmer. Sie alle gewinnen oder verlieren zusammen. Sie jubeln. Sie sind enttäuscht. Sie helfen sich gegenseitig. Sie applaudieren. Sie nehmen sich in die Arme. Sie feiern Erfolge. In Ausnahmefällen sogar die eigenen.

Mit einer solch überraschenden Situation war ich beim Schwimmen konfrontiert, wenn auch nur einige Sekunden lang. Schließlich waren meine Probleme mit dem Wasser längst nicht ausgestanden, als ich die Grundschule mit mageren Stilnoten verließ. Brustschwimmend konnte ich mich einigermaßen an der Oberfläche halten, als mich die Vielfalt des Sports wieder von hinten erwischte. Rückenschwimmen. Ich war ja durchaus Kummer im Beckenbereich gewohnt, doch diese Zumutung bedeutete eine weitere Eskalationsstufe. So ähnlich wie 3-Meter-Brett. Indes hatte sich der soziale Druck weiter verschärft. Manifestiert durch ein hinterhältiges Motivationssystem. Mitschüler, die wie Delfine durchs Wasser zischten, trugen längst goldene, silberne und bronzene Abzeichen auf der Badehose. Ich konnte das nicht ganz nachvollziehen, klebte ich mir doch auch nicht meine Erdkundenote an den Schulranzen, wo gibt’s denn sowas?

Von derart hochtrabenden Gedanken wie Sportsmanship war ich noch weit entfernt. Meine ganze Sorge galt einem naheliegenden Dilemma, unter anderem dem Wasser, das so fürchterlich juckte, wenn ich es in die Augen bekam. Mir blieb nichts anders übrig, als mich zu überwinden. Parole: Augen zu und durch. Schneller als ich dachte, erreichte ich den anderen Beckenrand. Ich rieb mir die zugekniffenen Augen und schaute nach rechts und links. Niemand da. Offenbar war ich der Erste! Wo waren eigentlich Micha und Stefan, die mit mir gestartet waren? Egal. Einmal Erster im Schwimmen! Na also. Ich lernte, dass es Siege gibt, die nichts anderes sind als unentdecktes Scheitern.

Alles kann. Nichts muss.

Schwimmabzeichen gab’s dafür allerdings keines. Stattdessen klärte mich die sanfte Stimme des Schwimmlehrers darüber auf, dass ich soeben seitlich am Becken angeschlagen hatte. Wohlgemerkt: Nicht an der gegenüberliegenden Seite, sondern seitlich. Man könne diesen Fehler vermeiden, so der Lehrer, wenn man sich an den Linien der Hallendecke orientieren würde. Altkluges Geschwätz, echt. Ich ahnte, dass er mein Argument mit den beißenden Augen wegwischen würde. Wie gut, dass es Micha und Stefan gab. Sie verstanden das Problem im Kern. Sie meinten, eine spezielle Schwimmbrille könnte helfen. Die beiden waren mir um Längen voraus, nicht nur im Wasser. Offenbar hatten sie bereits das Prinzip des Sportsmanship verstanden. Und das sogar als Sieger.

Bernd Sautter schreibt für Werbung und Fußballkultur. Er bloggt (https://www.propheten-der-liga.de/) und hat mehrere Bücher, darunter ein Buch über die schönsten Fußballgeschichten aus Baden-Württemberg veröffentlicht (https://www.heimspiele-buch.de/). Darüber hinaus ist Sautter beim VfB-Fanprojekt aktiv (https://www.vfb-fanprojekt.de/). Mehr über den Autor ist auf seiner Homepage zu finden: https://bernd-sautter.de/

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