MEIN MOMENT | Weltcup-Sieg in Phnom Penh
  04.10.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 40. Folge geht es um Martin Vogel, der mit dem deutschen Sitzvolleyball-Nationalteam zahlreiche Erfolge feiern konnte.

Martin Vogels Rückblick

Weil mein Vater als Ingenieur acht Jahre lang in Brasilien arbeitete, wurde ich 1972 in São Paulo geboren. Doch die Erinnerung an diese Zeit ist nur noch schwach, denn als ich dreieinhalb Jahre alt war, ging es nach Deutschland zurück, und fortan lebte ich in der Nähe von Aachen. Mit sechs Jahren zogen wir nach Beuren, wo ich aufwuchs. Zum Volleyball kam ich erst als A-Jugendlicher, davor war ich Geräteturner und spielte Tennis.

Am 8. Juni 1993 kam es dann zu einem einschneidenden, mein Leben total veränderndes Ereignis. Ich wollte Sport studieren und hatte noch zwei Wochen als Zivildienstleistender in der Psychiatrischen Abteilung des Kreiskrankenhauses in Nürtingen zu absolvieren, als ein Mann auf meine Station kam und seine Frau besuchen wollte. In Wirklichkeit wollte er sie erschießen. Ich begleitete ihn arglos auf das Zimmer, und als er plötzlich eine Pistole zog, flüchtete die Frau ins Bad. Und ich war dann halt übrig und wurde getroffen. Einige Knochensplitter gelangten ins Rückenmark, periphere Nerven geschädigt, was zu Lähmungen am rechten Bein und zu Beginn zum Ausfall jeglicher Sensibilität unterhalb des Knies führte. Ich überlebte den Anschlag, weil ich sofort operiert wurde, doch die niederschmetternde Diagnose lautete „inkomplette Querschnittslähmung“. Die Ärzte hatten zwar mein Leben gerettet, hielten eine vollständige Regeneration aber für eher unwahrscheinlich.

Für mich, den damals 21-Jährigen, brach eine Welt zusammen. „L5-S1-Syndrom“ heißt es, wenn der fünfte Lendenwirbel beschädigt ist und den Nervenstrang zum Bein abquetscht. Das untere rechte Bein fühlte sich taub an, die Fußheber funktionierten nicht mehr, die Nerven waren geschädigt. Die Wadenmuskeln können nicht mehr angesteuert werden, das Fußgelenk ist gelähmt, die Muskeln bildeten sich zurück. Ich musste erstmal wieder laufen lernen und kann mein rechtes Bein seitdem nur noch eingeschränkt benutzen.

Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen, trainierte und trainierte – und fand so Stück für Stück wieder zur Bewegung zurück. Körperlich erholte ich mich erstaunlich schnell, das überraschte auch meine Physiotherapeuten. Ich profitierte von meiner guten Koordination und Körperspannung, aber die Muskeln am rechten Unterschenkel entwickelten sich nicht mehr, heute noch ziehe ich das Bein nach. Eher zufällig kam ich dann wieder mit dem Volleyball in Kontakt, ging erst einmal zurück zur TG Nürtingen. Nicht zur ersten Mannschaft, sondern zur vierten. Der Sport, der Verein, die Gemeinschaft – das alles hat mir ungemein geholfen. Ich trainierte bald wieder regelmäßig und kämpfte mich wieder näher an das Niveau der ersten Mannschaft heran.

Meine ehemaligen Teamkollegen beobachtete ich zunächst nur beim Training oder beim Spiel, doch dann fasste ich mir eines Tages während einer Spielpause ein Herz, pritschte von der Bank aus ein paar Bälle und hechtet hinterher, als die Kugel versprang. Ich stieg wieder ein und wurde 2006 Spielertrainer der TG-Oberligamannschaft, auch von 2011 bis 2016 war ich spielender Trainer. Nun war alles gut, ich war zurück in der Welt von Aufschlag, Pritschen und Baggern. Der Volleyball hatte mir sehr viel Halt gegeben, war Leidenschaft und Therapie zugleich. 2016 beendete ich meine sportliche Karriere als „Steh-Volleyballer“ in meinem Heimatverein TG Nürtingen, dem ich nunmehr seit 28 Jahren angehöre. Die Belastung des rechten Sprunggelenks war einfach zu groß und verursachte inzwischen ständige Schmerzen.

Im Sommer 2005 hatte mich Olaf Hänsel, ein unterschenkelamputierter Spieler der Volleyballnationalmannschaft der Behinderten, auf einem Turnier angesprochen – und kurze Zeit später durfte ich das Team bei der Weltmeisterschaft 2006 in Roermond (Niederlande) unterstützen – als Nationalspieler mit einem atrophierten Bein bei den Standvolleyballern! Wir wurden Vize-Weltmeister, und ich, der Neuling, als „wertvollster Spieler des Turniers“ (MVP) ausgezeichnet!

Dabei kam „Behinderten-Sport“ bis dahin für mich gar nicht in Frage. Mit „denen“ wollte ich anfangs nichts zu tun haben, ich war ja nicht behindert. Jedenfalls hatte ich das lange von mir weggeschoben. Aber schließlich war aus dem Volleyballer Martin Vogel doch noch ein Para-Athlet geworden. 2008 folgte der Gewinn der Weltmeisterschaft in der Slowakei. 2007, 2009 und 2011 holte ich mit dem deutschen Team den Weltcup, jeweils in Phnom Penh (Kambodscha). 2007 kürten mich die Verantwortlichen zum „besten Annahmespieler des Turniers“, zwei Jahre später zum „besten Blockspieler“. Und 2011 erlebte ich „meinen Moment“, als wir vor über 8.000 frenetischen Zuschauern das Weltcup-Finale gegen die Gastgeber gewannen. Das war sehr beeindruckend, überaus stimmungsvoll und wenn ich mich heute daran erinnere, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut!

Bei den Paralympischen Spielen 2000 in Sydney hatte die Deutsche Volleyball-Nationalmannschaft im Standvolleyball die Goldmedaille gewonnen. Während dieser Spiele tagte das Internationale Paralympische Komitee (IPC) und beschloss, nur noch eine Art von Volleyball als paralympische Disziplin zuzulassen. Standvolleyball hatte dann gegenüber Sitzvolleyball das Nachsehen, dabei war das deutsche Team bis dahin als vierfacher Paralympics-Sieger (1988 in Seoul, 1992 in Barcelona, 1996 in Atlanta, 2000 in Sydney), vierfacher Weltmeister (1985 in Norwegen, 1989 in den USA, 1990 in Frankreich, 2008 in der Slowakei), fünffacher Europameister (1985 in Norwegen, 1987 in Frankreich, 1989 in Polen, 1993 in Frankreich, 1995 in Polen) und dreifacher Weltcup-Sieger (2007, 2009 und 2011 in Kambodscha) die weltweit erfolgreichste Mannschaft.

2011 wurde Standvolleyball plötzlich auch noch aus dem kompletten internationalen Programm gestrichen, und ein Großteil der Mannschaft mit Bundestrainer Athanasios Papageorgiou – er war seit 1983 der „Chef“ der Nationalmannschaft – wechselte 2014 zum Beachvolleyball-Nationalteam der Behinderten. Ich spielte damals ebenfalls Beachvolleyball, außerdem gehörte ich ab 2013 zum Kader der Sitzvolleyball-Nationalmannschaft – eine für mich neue Herausforderung. Das Spiel wurde in den Niederlanden erfunden, wurde jedoch so modifiziert, dass es von Menschen mit Behinderung gespielt werden kann. Von der Spieltechnik her gleicht Sitzvolleyball zwar dem regulären Volleyball, aber es gilt, stets mit dem Hintern auf dem Boden zu bleiben. Die schnelle Fortbewegung auf dem Boden ist nicht einfach und bedarf sehr viel Übung, nicht zuletzt deshalb, weil Sitzvolleyball ein viel schnellerer Sport ist als „normales“ Volleyball. In dieser Sportart können übrigens Menschen mit und ohne Behinderung zusammenspielen, Menschen mit zwei Beinen sind durch ihre Bewegungseinschränkungen am Boden eher im Nachteil.

2014 wurden wir im Sitzvolleyball WM-Sechster und 2015 Vize-Europameister. Dieser Erfolg berechtigte zur Teilnahme an den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro. Die deutschen Sitzvolleyballer beendeten dort das olympische Turnier auf dem sechsten Platz. Dennoch brachte mir Rio auch einen tollen Moment, Paralympics sind halt doch noch eine ganz andere Nummer als andere Turniere. Eine einschneidende Erinnerung bleibt für mich immer die Eröffnungsfeier der Paralympics 2016. Die Beschwingtheit, das absolute Gänsehautgefühl.

In Tokio 2021 verpassten wir mit nur einem Sieg (3:1 gegen Brasilien) und zwei Niederlagen (0:3 gegen Iran, 1:3 gegen China) leider das Halbfinale. Im Dreier-Vergleich der punktgleichen Teams hinter dem Gruppen- und späteren Paralympics-Sieger Iran entschieden am Ende die gewonnenen Ballwechsel, und hier lagen wir mit nur drei Ballpunkten hinter Brasilien und vor China nur auf dem dritten Platz in der Gruppe. So wurden wir am Ende nach einer 2:3-Niederlage gegen Ägypten im Spiel um Platz 5 wie in Rio Sechster.

Tokio war auch schön und für mich nicht sonderlich belastend. Schöner als in Rio empfand ich die nahezu grenzenlose Gastfreundschaft der Gastgeber. Wann immer wir zurück ins Dorf kamen, standen die Japaner Spalier, applaudierten und klatschten rhythmisch. Und sie hatten immer strahlende Augen – mehr sah man hinter den Masken ja leider nicht. Untergebracht waren wir zu sechst in einem Appartement – da gab es keine Probleme. Jeden Morgen mussten wir zum Spucktest, tagsüber hatten wir viel Training oder saßen im Bus-Shuttle, viel Zeit für anderes blieb uns nicht.

Der Schuss, der mich am 8. Juni 1993 traf, hat zwar mein Leben völlig verändert, aber mich nicht zerstört. Anstatt Sport studierte ich in Tübingen Englisch und Geografie, und während meiner Studienzeit verbrachte ich auch ein Jahr in Australien, wo man mir den Spitznamen „Birdie“ verpasste. Heute bin ich Lehrer am Georgii-Gymnasium in Esslingen und wohne in Esslingen-Sulzgries. Als alleinerziehender Vater einer dreijährigen Tochter, die 50 Prozent bei mir und 50 Prozent bei ihrer Mutter verbringt, bleibt mir nicht viel Zeit für weitere Hobbys, doch ich lese gerne und gehe einmal pro Woche ins Stuttgarter Kletterzentrum. Denke ich an den inzwischen verstorbenen Täter, kommen bei mir keine Hassgefühle auf, das hätte mich nicht weitergebracht, ich war damals einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.


Martin Vogel ist in Brasilien geboren und in Beuren (Landkreis Esslingen) aufgewachsen. Erst als A-Jugendlicher kam er zum Volleyball, davor war er Geräteturner und spielte Tennis. Er liebte den Sport – bis ihm 1993 beim Zivildienst im Krankenhaus Nürtingen ein Amokläufer in den Bauch schoss. Die Ärzte retteten ihm zwar das Leben, aber ihre niederschmetternde Diagnose lautete „inkomplette Querschnittslähmung“, und sie hielten eine vollständige Regeneration für eher unwahrscheinlich. Mühsam kämpfte er sich jedoch zurück ins Leben und in den Sport, wurde Spielertrainer der Oberligamannschaft seines Vereins, der TG Nürtingen. Im Standvolleyball und im Sitzvolleyball gehörte er zur deutschen Nationalmannschaft, nahm an zwei Paralympics und mehreren Welt- und Europameisterschaften sowie drei Weltcup-Turnieren teil. Der 49-jährige Lehrer für Englisch, Geografie und Geografie Bilingual wohnt in Esslingen-Sulzgries, unterrichtet am Georgii-Gymnasium Esslingen und ist Vater einer dreijährigen Tochter. Sein Lebensmotto lautet: „In der Ruhe liegt die Kraft“.

[Fotos: Pressefoto Baumann & IMAGO / Beautiful Sports (2) & IMAGO / Ralf Kuckuck]