MEIN MOMENT | Seit mehr als 20 Jahren in der Bundesliga
  27.12.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 52. und letzten Folge geht es um Gianhong „Hongi“ Gotsch, die seit 2000 für die SV Böblingen in der Tischtennis-Bundesliga spielt.

Gianhong Gotschs Rückblick

​​​​​​Eigentlich bin ich ein „Tischtennis-Dinosaurier“ – und manche nennen mich auch so. Denn ich bin schon 53 Jahre alt und spiele immer noch in der 1. Bundesliga. Tischtennis habe ich von Grund auf gelernt, bin Profi und es macht mir immer noch sehr viel Spaß. Aber mittlerweile bin ich sogar in die Politik gegangen; seit 2014 sitze ich in Gärtringen, wo ich mit meiner Familie wohne, für die CDU im Gemeinderat. 2019 wurde ich wiedergewählt, und so bin ich eine von acht Frauen des 22-köpfigen Gremiums. In meiner Fraktion bin ich allerdings alleine mit fünf Männern. Ich sitze in einigen Gremien, zum Beispiel im Schulbeirat, im Verwaltungsausschuss und im Kindergartenausschuss. Gärtringen hat zirka 13.000 Einwohner, liegt am Rande des Schönbuchs und des Schwarzwaldes und gehört zum Landkreis Böblingen, zum Regierungsbezirk Stuttgart und zum Verband Region Stuttgart. Auch die verkehrsgünstige Lage an der Autobahn A 81 Stuttgart – Singen und die S-Bahn-Haltestelle haben aus Gärtringen eine beliebte Wohngemeinde und einen begehrten Gewerbestandort gemacht.

Ich bin 1991 von China nach Deutschland übergesiedelt. Geboren bin ich 1968 als Qianhong He in Tianjin, einer Hafenstadt in China, die heute mehr als 13 Millionen Einwohner hat. Mit acht Jahren erlernte ich das Tischtennisspiel und wurde 1985 und 1986 chinesische Jugendmeisterin im Einzel. 1986 gewann ich außerdem den Einzel-Titel bei den Damen – nicht schlecht in einem Land, in dem, wie man sagt, zirka 50 Millionen Menschen aktiv zum Schläger greifen. 1987 wurde ich in Sofia (Bulgarien) Studenten-Weltmeisterin. Drei Länderspiele absolvierte ich für China, doch ich konnte meinen Platz in dem damals vorherrschenden System nicht wirklich finden. Insbesondere damit, dass so manches Mal von Funktionären oder Trainern im Vorfeld bestimmt wurde, wer denn interne Spiele gewinnen darf, konnte ich mich nicht so recht anfreunden. Heute ist das in China zum Glück seit vielen Jahren anders, aber damals war eine Spielerin, die sich damit nicht abfinden konnte und auch noch ihre Emotionen zeigte, nicht tolerabel – so wurde ich nicht mehr für den Nationalkader berücksichtigt. Nach einer längeren Phase der Desillusionierung und Selbstfindung kam ich 1991 nach einer zweijährigen weitgehenden Tischtennis-Pause nach Deutschland.

Ab 1991 spielte ich dann für die SV Böblingen in der Tischtennis-Bundesliga, doch wir stiegen (punktgleich, aber ein Spiel schlechter als der DSC Kaiserberg) am Saisonende wieder in die 2. Liga ab, obwohl mir eine 51:1-Bilanz gelang. Postwendend schafften wir jedoch 1993 den Wiederaufstieg – und ich lernte meinen späteren Ehemann Ingo Gotsch kennen, damals Student der Elektrotechnik, den ich 1996 heiratete. Zwei Jahre später erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft und wurde 1999 in die deutsche Nationalmannschaft berufen. Mein erstes Länderspiel für Deutschland, das weiß ich noch genau, bestritt ich am 13. Januar 1999 in der Europaliga gegen Russland, und ich gewann meine beiden Einzel. 1998 war ich zum TSV Betzingen gewechselt, kehrte aber 2003 wieder nach Böblingen zurück, und für die SVB spiele ich heute immer noch.

1999 und 2000 waren international sicherlich meine erfolgreichsten Jahre; während dieser Zeit konnte ich auch die stärksten chinesischen Spielerinnen und unter anderem die Nummer 1 und 2 der Weltrangliste, Wang Nan und Zhang Yining, sowie Li Ju bei internationalen Turnieren der Pro Tour besiegen. Im September 1999 belegte ich in der Weltrangliste den vierten Platz, so weit oben war ich bis dahin noch nie platziert – und konnte diesen Rang auch später nicht mehr übertreffen. 1999 gewann ich das deutsche (in Bad Ems) und das europäische Ranglistenturnier (im kroatischen Split) und wiederholte 2000 im italienischen Alassio den Sieg im Europe TOP-12. Außerdem wurde ich in diesem Jahr in Magdeburg Deutsche Meisterin im Einzel. Meine größten Erfolge feierte ich jedoch bei den Europameisterschaften Ende April 2000 in der Bremer Stadthalle: Es war nach 1962, 1978 und 1992 die vierte EM in Deutschland, und es nahmen 46 Herren- und 38 Damenmannschaften und insgesamt mehr als 400 Aktive aus 46 Nationen teil. Im Teamwettbewerb unterlagen wir den Ungarinnen Csilla Bátorfi, Krisztina Tóth und Mária Fazekas im Endspiel leider mit 2:4. In der Vorrundengruppe A gewannen Jie Schöpp, Olga Nemes, Elke Schall, Nicole Struse und ich gegen Italien, Russland (jeweils 4:0), Schweden, Rumänien und Frankreich (jeweils 4:1) und wurden Erster. Im Halbfinale setzen wir uns gegen Kroatien mit 4:0 durch.

Mein größter sportlicher Moment war am 1. Mai 2000 in Bremen das EM-Einzelfinale. Der Weg dorthin führte mich über Zita Molnar (Ungarn/3:0), Adela Mesan (Bosnien-Herzegowina/3:0), Anne Boileau (Frankreich/3:1), Olga Nemes (Deutschland/3:0) und Jie Schöpp (Deutschland/3:0). Im hart umkämpften Endspiel konnte ich gegen die Rumänin Mihaela Steff mit 3:2 (16:21, 22:20, 21:15, 13:21, 21:13) gewinnen, und die ganze Halle stand Kopf! Die Zuschauer erhoben sich und klatschten minutenlang – ich hatte eine Gänsehaut und Tränen in den Augen und habe allen gewinkt!

Bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney schied ich im Viertelfinale knapp mit 2:3 Sätzen gegen die erste Olympiasiegerin der Geschichte, Chen Jing (Taiwan), aus. Sie hatte 1988 in Seoul, als Tischtennis erstmals vertreten war, gewonnen und holte in Sydney Bronze. Davor hatte ich Rinko Sakata (Japan) und Suk Eun-Mi (Südkorea) besiegt. Ende 2000 beendete ich dann meine internationale Karriere, um mich der Familie zu widmen.

Zwei andere, sehr bewegende Momente waren die Geburten meiner beiden Kinder. Unser Sohn Timo ist heute 18 Jahre alt, spielt jeweils hobbymäßig Fußball und Tischtennis in Gärtringen, unsere Tochter Hannah (16) betreibt Leichtathletik und startet für den VfL Sindelfingen. Als beide geboren wurden, war das für mich ebenfalls sehr bewegend: Dass meine Kinder aus meinem eigenen Bauch heraus in diese Welt kamen, überwältigte mich geradezu, und die Gefühle, die ich damals hatte, werde ich niemals vergessen!

Genau ein Vierteljahrhundert bin ich inzwischen für die SV Böblingen im Einsatz, 21 Jahre davon im Bundesliga-Oberhaus. Wegen Corona habe ich neun Monate lang nicht gespielt, ich brauche daher noch ein bisschen Zeit. Der Kopf gibt zwar einen Befehl, aber der Körper hört noch nicht immer darauf! Aufgrund einer vorhandenen Vorerkrankung sah ich mich im Ansteckungsfall mit dem Virus einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt, eventuell mit einem schweren Verlauf der Krankheit, deshalb trat ich, nach Absprache mit den Vereinsverantwortlichen, in der zweiten Hälfte der vergangenen Saison nicht mehr an. Mittlerweile bin ich zum dritten Mal geimpft und seit Juni wieder normal im Training. Was mir zuletzt vor allem fehlte, waren die sportliche Bewegung und das Treffen mit den Teamkolleginnen, aber ich hielt mich mit Krafttraining und Ergometer doch einigermaßen fit.

Einen Motivationsverlust durch die lange Coronapause kann ich bei mir nicht feststellen, es kribbelt schon noch, und die Motivation ist jetzt sogar deutlich größer als am Jahresende 2020. Ein Hauptgrund für meinen Erfolg ist sicherlich mein Spielsystem, das in Richtung moderne Abwehr geht. Früher haben die Leute gesagt, ich spiele „Mischmasch“. Ich spiele zwar Abwehr, benutze sie aber vor allem, um meine Angriffe vorzubereiten. Man weiß nie, wann ich angreife oder was als nächstes kommt. Ich bin quasi unberechenbar. Dass ich die „jungen Leute“ in der Bundesliga noch reihenweise aus der Box jagen kann, freut mich. Normalerweise ist im Tischtennis ab 30, 35 Jahren zumindest in der absoluten Spitze beziehungsweise im professionellen Bereich so langsam Schluss. Ich bin, sportlich gesehen, fast schon ein „Museumsstück“ – die jungen Leute spielen alle mit voller Kraft, ich arbeite eher mit vielen Schnittwechseln und mache mir viele Gedanken um meine Taktik.

Das Geheimnis meines Erfolges nur in meinem Material zu suchen, stimmt sicher nicht, denn das ist relativ harmlos – ich spiele auf der Vorhand mit kurzen Noppen und auf der Rückhand einen Noppen-innen-Belag. So kann ich mit der Vorhand schnell schießen und mit der Rückhand meine Schnittwechsel machen. Das hohe Tempo meiner jungen Gegnerinnen bereitet mir dabei keine Probleme, schließlich trainiere ich nun, da meine Kinder groß sind, meist wieder drei bis vier Mal in der Woche.

Ich bin ein offener Mensch, habe gerne viel Spaß, das freut die Leute, und sie öffnen ihre Herzen! Die Schwaben sind anfangs etwas zurückhaltend, aber wenn sie erstmal aufgetaut sind, sind sie auch sehr herzlich. Mittlerweile verstehe ich fast alles in der deutschen Sprache, und jede Unterhaltung bringt mir sehr viel. Meine Hobbys sind Lesen, Kino, Wandern und Museumsbesuche. Und natürlich Kochen – alles, was gut schmeckt! Und schwäbisch Kochen, zum Beispiel Schweinebraten oder Kartoffelsalat! Spätzle habe ich oft versucht, und jetzt klappt das auch!


Qianhong „Hongi“ Gotsch wurde 1968 im chinesischen Tianjin geboren und ist Tischtennis-Profi. Die Rechtshänderin und Abwehrspielerin war 1999 und 2000 „Spielerin des Jahres“ im Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB). Die 53-Jährige war mehrmals beste Bundesligaspielerin, zum Beispiel in den Jahren 1991, 1992, 1994, 1995, 1997 und 2007. Als sie von China nach Deutschland übersiedelte, sagte ihre Mutter: „Oh je, da sehen alle aus wie Karl Marx.“ Die „Ikone“ der SV Böblingen ist seit 1996 mit Ingo Gotsch, einem Elektroingenieur, verheiratet und hat einen Sohn (18) und eine Tochter (16). Sie lacht gerne und viel und ihr Rezept für einen perfekten Tag lautet: „Immer gute Laune, gesundes Essen und viel Bewegung.“

[Fotos: Pressefoto Baumann]