Wolfgang Gattiker: Die Stimme des SSV

Schon immer war ich sportverrückt, Sport in allen Varianten, Disziplinen und Formen war von klein auf mein einziges Hobby. Deshalb lautete die Antwort auf die Frage nach meinem Traumberuf bereits in jungen Jahren „Sportreporter“! Doch zunächst sollte ich auf Familienwunsch einen „richtigen“ Beruf erlernen und ließ mich in den Sechzigerjahren an der Pädagogischen Hochschule in Reutlingen zum Grund- und Hauptschullehrer in den Fächern Sport und Mathematik ausbilden. Dadurch konnte ich mich wenigstens teilweise beruflich mit Sport beschäftigen. In der Jugend, während meines Studiums und noch danach spielte ich beim FC Reutlingen Fußball und absolvierte schließlich in der „Ersten“ mehr als 400 Pflichtspiele in der Kreis- und Bezirksliga als Libero. 1972 wurden wir sogar Reutlinger Stadtmeister. 1969 gewann ich mit meiner Studentenmannschaft die Württembergische Fußball-Meisterschaft der Pädagogischen Hochschulen. Manchmal war ich auch handballerisch aktiv, dabei stand ich dann immer im Tor.

Nach meiner Ausbildung war ich zunächst Lehrer in Göllsdorf bei Rottweil, danach in Friedrichshafen, ehe ich an die Hermann-Kurz-Schule Reutlingen kam und dort 38 Jahre lang unterrichtete. Die tägliche Arbeit mit den Kindern machte mir immer sehr viel Spaß und Freude. Doch im Hinterkopf hatte ich stets meinen Traum „Sportreporter“, und so kam ich auf die Idee, als freiberuflicher Journalist ins „große Mediengeschäft“ einzusteigen. Im Jahr 1967 schrieb ich für das Metzinger/Uracher Volksblatt, das von der Südwestpresse Ulm den überregionalen Mantel bekam und immer noch bekommt, meinen ersten Zeitungsbericht vom Auswärtsspiel des SSV Reutlingen in der Schwarzwald-Bodensee-Liga (damals 3. Liga) beim FC Wangen. Seit dieser Zeit begleitete ich – ohne einmal zu fehlen – das SSV-Team und berichtete dabei von rund 1.600 Begegnungen des SSV bis in die 2. Bundesliga. Dafür habe ich oft meinen Unterricht vorgezogen, damit ich freitags bei Auswärtsspielen unter Flutlicht rechtzeitig losfahren konnte. Gegen 22 Uhr ging es dann zurück nach Reutlingen. Damals war der SSV mit 87 Punkten und 102:25 Toren Meister der Oberliga Württemberg geworden und hatte es in der Aufstiegsrunde zunächst mit Aalen, Offenburg und Eppingen zu tun. Zu diesen drei Heimspielen kamen insgesamt etwa 40.000 Zuschauer an die Kreuzeiche. Danach haben die Achalmstädter Saarbrücken mit Trainer Klaus Toppmöller mit 8:2 Toren geschlagen!

1989 spielte Reutlingen in Edenkoben (mit Hans-Peter Briegel) und 3.000 SSV-Fans begleiteten ihre Mannschaft. Nur einen Punkt benötigte der SSV zum Aufstieg in Liga zwei und führte gar mit 1:0. Alle Gäste feierten bereits den Aufstieg, da fiel in der 89. Minute das 1:1, damit wäre Reutlingen aber immer noch aufgestiegen. Doch in der zweiten Minute der Nachspielzeit erzielte Edenkoben tatsächlich noch das 2:1 – Aufstieg verpasst, das war wie Bayern München im Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United – die bitterste Niederlage in letzter Sekunde!!!

Eine andere Anekdote: 1965 wurde der SSV Vizemeister der Regionalliga Süd und durfte mit Trainer Georg Wurzer an der Aufstiegsrunde zur Bundesliga teilnehmen. Man hatte in St. Pauli 1:0 gewonnen und lag an der Kreuzeiche schnell mit 0:1 zurück. Die Zuschauer dachten wohl, das war’s, und sind in Scharen weggelaufen. Doch dann hat der SSV Tor um Tor erzielt und gewann mit 4:1. Und die Zuschauer sind noch während des Spiels wieder zurückgekommen!

Oder: Gegen Borussia Mönchengladbach (zum Hinspiel waren 4.000 Zuschauer aus Reutlingen mitgefahren) hätte zu Hause ein 1:0 zum Aufstieg in die Bundesliga gereicht, doch Günter Netzer machte vor 20.000 Zuschauern nach 15 Minuten das 1:1 und stellte damit den Endstand her. So nah sind wir noch nie an der Bundesliga drangewesen, und wer weiß, ob MGB (mit Berti Vogts, Hacki Wimmer, Netzer, Wolfgang Kleff u.a.), wenn es damals nicht aufgestiegen wäre, überhaupt so erfolgreich geworden wäre!

2003 übernahm ich das Amt des Stadionsprechers beim SSV und moderierte auch die Pressekonferenzen nach den Spielen. Bei der Erstellung des Stadionheftes half ich ebenfalls mit. Eine tolle Sache war auch mein Einsatz als Stadionsprecher bei der U-19-Europameisterschaft im Jahr 2016, als Deutschland an der Kreuzeiche vor 14.000 Zuschauern gegen Österreich mit 3:0 Toren gewann.

Immer öfter erhielt ich im Laufe der Jahre Aufträge der regionalen Rundfunkanstalten, und ich berichtete vom Sportgeschehen rund um die Achalm für RTL-Radio, Radio Achalm oder das Neckar-Alb-Radio, außerdem schrieb ich in den vergangenen über 50 Jahren für die Reutlinger Nachrichten, BILD oder die Deutsche Presseagentur. Zwei andere Schwerpunkte meiner Sportreporter-Laufbahn waren Handball und Tischtennis. So bin ich seit über 30 Jahren Hallensprecher in der Kurt-App-Halle für den VfL Pfullingen. Als besonderer Höhepunkt ist mir dabei das Heimspiel des VfL in der Bundesliga gegen Rekordmeister THW Kiel 2004 in Erinnerung geblieben. Vor 1.800 Zuschauern in der proppevollen App-Halle stand es 22:23, die Spielzeit war abgelaufen, aber Pfullingen hatte noch einen Siebenmeter zugesprochen bekommen. Aleksandar Stevic trat an, aber Nationaltorhüter Henning Fritz parierte – sonst hätte „Underdog“ Pfullingen dem haushohen Favoriten Kiel einen Punkt abgetrotzt! 2003 an Weihnachten hatte der VfL Pfullingen sein Heimspiel gegen Nordhorn in die Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer-Halle verlegt und 8.500 Zuschauer erlebten die 29:35-Niederlage mit. Als Hallensprecher hatte ich ein VfL-Tor verkündet, das die Schiedsrichter jedoch nicht gaben, weil es Außennetz gewesen sei. Das monierte ich mehrmals über die Lautsprecher, so dass mir von den Unparteiischen die Rote Karte angedroht wurde, wenn ich das noch einmal behaupten würde. Später kamen die Schiris dann in die laufende Pressekonferenz und entschuldigten sich: Das Videostudium hatte gezeigt, dass es doch ein regulärer Treffer gewesen war.

Auch von den Glanzzeiten der SSV-Tischtennis-Mannschaft mit gewonnener Deutscher Meisterschaft (1977), vier Pokalsiegen (1976, 1977, 1980,1981) und dem Sieg im europäischen Messecup (1980) berichtete ich. 1983 empfing der SSV Heinzelmann Reutlingen die Düsseldorfer Borussia im Endspiel des Europapokals der Landesmeister. Vor 2.200 begeisterten Zuschauern in der Oskar-Kalbfell-Halle verteidigte der SSV mit einem sensationellen 5:3-Sieg gegen den Rekordmeister seinen Titel aus dem Vorjahr. Mikael Appelgren, Peter Stellwag und Reinhard Sefried – er ersetzte den Schweden Ulf Thorsell, der wegen der neuen Ausländerregelung nicht eingesetzt werden durfte – lieferten Düsseldorf einen ausgeglichenen Kampf, der bis 0.25 Uhr dauerte. Die Borussen hatten zwar für 23 Uhr ihr Essen bestellt, doch das Restaurant war weit nach Mitternacht natürlich bereits zu. So gingen beide Teams in eine Disco und ernährten sich „ersatzweise“ mit Erdnüssen, Chips oder kleinen Snacks! Einige Jahre war ich übrigens auch Hallensprecher beim TTC Frickenhausen in der 1. und 2. Bundesliga.

Insgesamt habe ich in den mehr als 50 Jahren als Reporter unheimlich viele Leute kennengelernt und Interviews mit zahlreichen Sportlerinnen und Sportlern geführt. Nur einige Beispiele: Ulrike Meyfahrt, Susi Erdmann, Christa Kinshofer, Gerhard Mayer-Vorfelder, Lothar Matthäus, Uli Hoeneß, Otto Rehhagel, Max Schmeling, Dietrich Thurau, Toni Schumacher, Erhard Wunderlich, Joachim Deckarm und, und, und. Ich möchte Menschen in Wort und Schrift begeistern und faszinieren und ihnen zugleich den Sport näherbringen. Manche sagen, das sei meine Berufung. Mir hat es auf jeden Fall immer sehr viel Spaß gemacht!


Wolfgang Gattiker wurde in Reutlingen geboren und ist durch seinen Vater Schweizer Staatsbürger. Er wohnt – bis auf vier Jahre (Lehrer in Göllsdorf und Friedrichshafen) – schon immer in Reutlingen in unmittelbarer Nähe des Stadions Kreuzeiche, der Heimspielstätte des SSV Reutlingen. 38 Jahre lang war Gattiker Lehrer (Sport und Mathematik) an der Hermann-Kurz-Grund- und Hauptschule Reutlingen, er hat zwei Söhne und vier Enkel.

[Fotos: Pressefoto Baumann & privat]