Ulrich Ruf: Der Herr der VfB-Zahlen

Ein technisch veranlagter Mensch war ich nie, aber ich konnte schon früh mit Zahlen umgehen, und so absolvierte ich nach Abschluss meiner mittleren Reife eine Ausbildung zum Bankkaufmann (09/1971 bis 05/1973) bei der damaligen Württembergischen Bank (ab 1977 BW-Bank). Als ich am 1. April 1980 beim VfB angefangen habe, begann für mich eine völlig andere Zeit. Bis dahin war ich mit Fußball nur als Torwart beim CVJM Münchingen und später regelmäßig beim Betriebssport in Berührung gekommen, habe danach ab 1990 gut 15 Jahre Tennis gespielt und spiele seit 2015 und bis heute noch Faustball bei der M 60 des VfB. Aber damals war ich bereits und von Jahr zu Jahr immer mehr mittendrin im „großen“ Fußballgeschäft.

Ursprünglich als Assistent der Geschäftsleitung angestellt, wurde ich wenig später zum stellvertretenden Geschäftsführer befördert und wuchs immer mehr in neue Aufgaben hinein, hatte damals aber Zeit, mich zu „entwickeln“. So bekam ich immer größere Verantwortung übertragen und stand dann auch immer stärker in der Öffentlichkeit. 1990 ernannte mich Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder und das VfB-Präsidium als Pendant zu Dieter Hoeneß zum gleichberechtigten Direktor für die Geschäftsbereiche Finanzen, Recht, Verwaltung und Organisation und war damit u.a. erstmals auch für Transferverhandlungen und die Ausarbeitung der Transfer- und Spielerverträge zuständig.

Eigentlich sollte ich schon im Oktober 1999 in den Vorstand berufen werden, um die jungen Vorstände Hansi Müller und Karl-Heinz Förster zu begleiten, was aber damals wegen der satzungsgemäßen Vorgaben nicht ging. Als ein Jahr später sowohl Ulrich Schäfer wie auch Hubert H. Schaefer aus dem VfB-Vorstand ausschieden, wurde ich vom damaligen Aufsichtsrat in der Ära des neuen Präsidenten Manfred Haas zusammen mit Dr. Achim Egner von der debitel AG, unserem damaligen Hauptsponsor, offiziell in den Vorstand berufen. Bei meiner Antrittsrede auf der Mitgliederversammlung 2000 musste ich über einen für damalige Verhältnisses extrem hohen Verlust und über Verbindlichkeiten von mehr als 29 Millionen DM und damit über den höchsten Verschuldungsstand in der VfB-Vereinsgeschichte berichten. Zum Glück konnten wir diesen quasi „historischen“ Schuldenberg in den darauffolgenden Jahren weitgehend abbauen. Im Oktober 1999 hatten wir dann nach einer vorausgegangenen Ausschreibung und Marktanalyse und auf meine klare Empfehlung hin die VfB Stuttgart Marketing GmbH gegründet, sozusagen einer der Meilensteine in der wirtschaftlichen Entwicklung unseres VfB. Gegen die mir in späteren Jahren immer mal wieder gemachten Vorwürfe, ich würde das Risiko scheuen, wehre ich mich entschieden, auch weil sie nicht stimmig sind. Aber betriebswirtschaftliche Entscheidungen sind diesbezüglich oft nicht so erklärbar, dass sie von außen immer für jedermann nachvollziehbar sind, zumal ein „Finanzchef“ im Fußball in aller Regel nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand entscheiden und immer die Gesamtsituation des Vereins im Blick haben sollte.

Im Laufe meiner Tätigkeit beim „Verein für Bewegungsspiele“ hatte ich das Glück, dass es wahnsinnig viele Momente (und nicht nur den einen Moment) gab, die sich mir einprägten. Beispielsweise die gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Vereins, der Bau und spätere Ausbau des VfB-Clubzentrums, viel später dann des Carl-Benz-Centers und des Nachwuchsleistungszentrums, mehrere für den VfB wegweisende Umbaumaßnahmen und die Entwicklung des Stadions, aber auch die herausragenden sportlichen Highlights. Bei „meiner“ ersten aktiv miterlebten Deutschen Meisterschaft am 26. Mai 1984 strömten die Fans beim Auto-Korso der Mannschaft in solchen Massen auf die Straßen, dass wir die geplante Route über Stuttgart-Ost aus Sicherheitsgründen streichen mussten, weil alles viel zu voll und die Straßen verstopft waren. Am 3. und 17. Mai 1989 dann die beiden Endspiele im UEFA-Pokal gegen den SSC Neapel mit den Superstars Diego Maradona, Careca und Alemao; nach der knappen 1:2-Niederlage in Neapel wurden wir von der Kartennachfrage für das Rückspiel in Stuttgart regelrecht überrannt. Die Italiener holten sich mit dem 3:3-Unentschieden (nach einer 3:1-Führung) den Pokal, aber das gesamte Ereignis war einzigartig und mit vielen spektakulären Erlebnissen verbunden!

Dies gilt auch für den Gewinn der ersten gesamtdeutschen Meisterschaft 1992, als uns ein Kopfballtreffer von Guido Buchwald in der 86. Minute in Leverkusen mit 52:24 Punkten und 62:32 Toren den Titel vor Dortmund (52:24/66:47) und Frankfurt (50:26/76:41) bescherte, nachdem vor dem letzten Spiel alle drei Teams noch punktgleich waren. 1997 gewannen wir das Pokalfinale in Berlin gegen den Zweitligisten FC Energie Cottbus durch zwei Elber-Tore und qualifizierten uns dadurch für den letztmals ausgetragenen Europapokal der Pokalsieger. Das Endspiel 1998 hätte der VfB im Råsundastadion in Solna (Provinz Stockholm) nicht mit 0:1 gegen den FC Chelsea verlieren müssen.

Am Ende der Saison 2002/2003 wurde der VfB mit Trainer Felix Magath überraschend Vizemeister hinter Bayern München, auch weil Borussia Dortmund am letzten Spieltag patzte, und qualifizierte sich damit erstmals für die Champions League, was für den VfB wegen der zusätzlichen Einnahmen enorm wichtig war. In der Champions-League-Saison 2003/04 zeigte die junge VfB-Mannschaft ihre Klasse unter anderem durch einen nie für möglich gehaltenen 2:1-Sieg gegen Manchester United (Rückspiel 0:2) in der Gruppenphase, wo die weiteren Begegnungen gegen Panathinaikos Athen (2:0 und 3:1) und gegen die Glasgow Rangers (1:2 und 1:0) direkt ins Achtelfinals führten. Eine meiner (und wohl auch Erwin Staudts) unvergesslichsten Begegnungen mit einer Person der Zeitgeschichte fand im September 2003 bei den Glasgow Rangers statt, als wir in der privaten Loge des damaligen Chairmans eine rund zehnminütige Begegnung mit „007-Star“ Sean Connery hatten. Leider war im Achtelfinale erneut der FC Chelsea Endstation, nachdem sich der VfB durch ein Eigentor von Fernando Meira im Hinspiel selbst um die Chance auf den Einzug ins Viertelfinale gebracht hatte (0:1 zuhause, 0:0 auswärts).

Und schließlich die fünfte deutsche Meisterschaft 2007: Als jüngste Mannschaft der Bundesliga und trotz eines 0:3-Saisonfehlstarts brachten die Jungs von Trainer Armin Veh mit einem Schlussspurt von acht Siegen in Folge (der letzte war ein 2:1 gegen Energie Cottbus) am Ende den Titel mit einem Zwei-Punkte-Vorsprung vor dem FC Schalke 04 zurück an den Neckar! Die Begeisterung in der Stadt mit über 250.000 Fans war unglaublich, und hier mittendrin dabei zu sein und die Verantwortung für die Gesamtplanung gehabt zu haben, das war ein herausragendes und unbeschreibliches Gefühl!

Auch an den berühmten Fallrückzieher von Klinsi erinnere ich mich noch sehr gerne. Am 14. November 1987 bezwang der VfB die Bayern, nachdem er sie schon sechs Wochen zuvor in der Bundesliga mit 2:1 besiegt hatte, im damaligen Neckarstadion mit 3:0 Toren. Nach einer Flanke von Günther Schäfer traf Jürgen Klinsmann per Fallrückzieher zum 1:0. Dieser Treffer wurde anschließend zum „Tor des Monats“, zum „Tor des Jahres“ und später sogar zum „Tor des Jahrzehnts“ gewählt.

Extrem wichtig war mir in all den Jahren nicht nur die Entwicklung des Vereins, sondern auch des Stadions. Es war immer in städtischem Besitz, wie auch heute noch die städtische Tochtergesellschaft Stadion NeckarPark GmbH & Co. Besitzerin der Mercedes-Benz Arena ist. Bis zum 30. Juni 2001 war der VfB vermarktungstechnisch gesehen zu Gast bei seinen eigenen Spielen und Veranstaltungen. Alle Vermarktungsrechte lagen bis dahin bei der Stadt, wobei der VfB mit 50 Prozent an den von der Stadt beziehungsweise dem von ihr beauftragten Vermarkter beteiligt wurde, jedoch ohne jegliche Einsichtnahme in die Abrechnungen! Nach rund drei Jahren zum Teil zäher Verhandlungen in Begleitung mehrerer Partner ist es dann gelungen, mit der Stadt einen Vertrag zu schließen, wonach die Vermarktungsrechte bei einer entsprechenden Abgabe an die Stadt auf „Zeit und Ewigkeit“ zum VfB kamen – das war eine der wegweisendsten Entscheidungen für die Zukunft des VfB und für seine neu gegründete Marketing GmbH! Ein weiterer Meilenstein folgte mit dem Umbau der Mercedes-Benz Arena in ein reines Fußballstadion in den Jahren 2009 bis 2011, auch weil der VfB bis 2041, nicht als Eigentümer, aber als Betreiber des Stadions, alleine bestimmen kann, was im Stadion (außer bautechnischen Maßnahmen) geschieht. Das alles geschafft zu haben, ohne dem VfB die Risiken einer Stadionfinanzierung wie einen viel zu großen Klotz ans Bein zu binden, ist für mich nach wie vor ein großartiges Gefühl!

In den Jahren 1999 bis 2001 wurden im Stadion erstmals Logen und Business-Seats eingebaut, und seit 1. Juli 2011 erfolgt die Gesamtvermarktung des Stadions über den VfB und seine Tochtergesellschaften. Für mich ist dies einer der größten Erfolge, weil wir in den vielen Jahren zuvor mehrere unterschiedliche Anläufe gestartet haben, aber immer wieder gescheitert sind. Der Umbau des Stadions in eine reine Fußball-Arena hat mich insbesondere für unsere Zuschauer und Fans gefreut, und ich bin heute noch froh und dankbar, dass wir diese zukunftsweisenden Umbau-maßnahmen gemeinsam mit der Stadt Stuttgart umsetzen konnten, auch weil die Mercedes-Benz-Arena in der seit 2011 bestehenden Form die Wettbewerbsfähigkeit des VfB enorm gesteigert hat.

Im Laufe der Jahre wurde ich in zahlreiche Ehrenämter als Vorstands- bzw. Präsidiumsmitglied berufen, vom Württembergischen (wfv) über den Süddeutschen Fußballverband (SFV) bis hin zum Deutschen Fußball-Bund (DFB). Seit 2016 bin ich Vorsitzender des Prüfungsausschusses (bis 2019 Revisionsstelle) des DFB und damit beratendes Mitglied im DFB-Vorstand. Außerdem war ich Mitglied der Lenkungsgruppe Stuttgart für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Aktuell bin ich noch ehrenamtlicher Vorsitzender des Fördervereins der Sportvg Feuerbach Fußball, Mitglied der Abteilungsleitung der VfB-Faustballabteilung und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Metallux AG in Nellmersbach.

Blicke ich auf gut 35 Jahre im Dienst des VfB Stuttgart zurück, kann ich mit Fug und Recht sagen: Ich habe immer versucht, meine Rolle getreu dem Motto „Der VfB steht über allem“ zu leben, nie meine Person über die Organisation, sondern immer die Organisation über die Person zu stellen, die Menschen auch als solche zu sehen und zu behandeln und die Zusammenarbeit mit ihnen auf eine gegenseitige Vertrauensbasis zu stellen. Leider gehen diese Werte ganz allgemein immer mehr verloren, leider auch, was einen würdevollen und respektvollen Umgang miteinander, vor allem auch bei ausscheidenden Personen, anbelangt. Nicht zuletzt deshalb hat das Ehrenamt heutzutage schwierige Zeiten zu überstehen. In den letzten fünf Jahren meiner Tätigkeit habe ich die Probleme des VfB viel zu sehr verinnerlicht und dadurch erhebliche gesundheitliche Probleme bekommen, die mich dazu bewogen haben, meine hauptamtliche Tätigkeit beim VfB nach über 35 Jahren zum 30. Juni 2015 zu beenden. Alles in allem waren es überwiegend tolle und erfüllende Jahre, und meinen sozialen Aufstieg habe ich dem VfB zu verdanken; aber jetzt bin ich doch froh, dass ich das alles hinter mir weiß! Mein Leben war komplett auf den Fußball ausgerichtet, und ich bin sehr erleichtert, dass ich beim VfB eigeninitiativ und „im Frieden“ ausgeschieden bin, was mir immer extrem wichtig war. Der Fußball und der VfB werden aber immer einen herausragenden Platz in meinem Herzen haben.


Ulrich Ruf wurde am 1. April 1980 vom VfB Stuttgart als Assistent der Geschäftsleitung angestellt und schon nach kurzer Zeit zum stellvertretenden Geschäftsführer befördert. Im September 1990 ernannten der damalige Aufsichtsrat und Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder den gebürtigen Münchinger zum gleichberechtigten Direktor für Finanzen, Recht, Verwaltung und Organisation gemeinsam mit Dieter Hoeneß. 35 Jahre „schaffte“ der Vater eines Sohnes und einer Tochter für den VfB und war zuletzt über 15 Jahre die „einzige Konstante im VfB-Vorstand“. Der VfB verlieh ihm die Verdienstmedaillen in Gold (2000) und in Gold mit Rubin (2010), seit 2005 ist er Ehrenmitglied des Vereins und seit seinem Ausscheiden im Juni 2015 Träger des VfB-Ehrenrings sowie der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Der begeisterte Rock-Musik-Anhänger bekleidete zudem zahlreiche hohe Ehrenämter. Im Spätherbst 2015 schloss er sich den VfB-Faustballern an („das macht Spaß und gefällt mir, auch weil die Gemeinschaft im Training und bei den anschließenden regelmäßigen Grillabenden auf dem Gelände der Skizunft in Rohr ein Klassiker ist“) und wurde mit der VfB-Ü60-Mannschaft 2015 in Chile und 2018 in Österreich, allerdings als reiner Ersatzbank-Spieler, zweimal Faustball-Weltmeister. Aufgeben ist ihm fremd, getreu seiner Philosophie „Leistung setzt sich auf Dauer immer durch“.

[Fotos: Pressefoto Baumann]