Stefan Müller: Der Bundestrainer Sportwissenschaft
Sport hat mich schon immer interessiert und fasziniert, und was mich angesprochen hat, habe ich meist auch ausprobiert. Schon in jungen Jahren wurde ich Mitglied im Schützenverein Aurich, der mit über 300 Mitgliedern einer der größeren Schützenvereine in der Region ist, und schoss mit dem Luft- und dem Kleinkalibergewehr. Nach dem Abitur 2000 in Vaihingen/Enz ging ich zur Bundeswehr. Danach absolvierte ich bei Wüstenrot eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Dieser Beruf entsprach jedoch nicht so meiner Vorstellung, so dass ich ein Sportstudium in Karlsruhe begann, was bei meinem großen sportlichen Interesse niemanden verwunderte – es lag einfach nahe. Im ersten derartigen Studiengang in der badischen Metropole „baute“ ich meinen Bachelor und Master. In beiden Abschlussarbeiten befasste ich mich mit Sportpsychologischen Auswirkungen auf das Sportschießen. So habe ich in meiner Bachelorarbeit die Auswirkungen von klassischem Mentalen Training und in der Masterarbeit die Auswirkungen von kognitiven Deutungsmustern beim Sportschießen unter die Lupe genommen.
Schnell wurde ich Kadertrainer Schießen im Württembergischen Schützenverband (WSV), dem ältesten von insgesamt 20 Mitgliedsverbänden des Deutschen Schützenbundes (DSB) und mit seinem Gründungsjahrgang 1850 sogar älter als sein Dachverband selbst. Auch die Ehrenamtsseite lernte ich zum Beispiel als stellvertretender Jugendleiter oder als Schulungsleiter kennen und war als Lehrgangsleiter in verschiedenen Ausbildungsgängen aktiv.
Als die damalige Bundestrainerin Beate Dreilich 2015 verstarb, wurde ihre Stelle ausgeschrieben und ich ihr Nachfolger. Nun bin ich schon seit fünf Jahren Bundestrainer Sportwissenschaft im DSB und schlage in dieser Position praktisch die Brücke zwischen Praxis und Wissenschaft. Zu meinen Aufgaben gehört unter anderem die Koordination, Leistungsdiagnostik, Entwicklung Sportwissenschaft und auch Neuerungen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten, wobei es für die Leistungsdiagnostik einen „eigenen“ Bundestrainer, Guido Rudolph, gibt, mit dem ich eng zusammenarbeite. Die Koordination der Partner innerhalb des Sportsystems, wie das Institut für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) in Leipzig oder das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin fallen auch in meinen Aufgabenbereich. Außerdem betreue ich von meinem Büro auf der DSB-Geschäftsstelle in Wiesbaden Die Koordination der Partner innerhalb des Sportsystems, wie das Institut für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) in Leipzig oder das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin fallen auch in meinen Aufgabenbereich. Außerdem betreue ich von meinem Büro auf der DSB-Geschäftsstelle in Wiesbaden die für uns tätigen Sportpsychologen.
Die hauptamtlich geführte Bundesgeschäftsstelle mit derzeit 45 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist nicht nur Anlaufstelle für die Landesverbände, die einzelnen Mitglieder und die Öffentlichkeit, sondern auch Sprachrohr und Repräsentant des Verbandes. Direkt neben der Bundesgeschäftsstelle ist in den letzten Jahren unser neuer Bundesstützpunkt entstanden. Mit einem exzellent ausgestatteten Diagnostikbereich und anderen Vorteilen, die dieser Stützpunkt bietet, haben wir eine gute Grundlage für die Zukunft gelegt. Hier arbeiten die meisten der insgesamt 22 Bundestrainer (Pistole, Schnellfeuerpistole, Gewehr, Trap, Skeet, Sportwissenschaft, Leistungsdiagnostik) und Assistenztrainer (Gewehr, Luft-/Sportpistole, Schnellfeuerpistole, Trap, Skeet). Dazu kommen noch sechs Verantwortliche für die nichtolympischen Disziplinen, als da sind Armbrust, Großkalibergewehr 300 m, Sommerbiathlon/Target Sport, Vorderlader, Laufende Scheibe, Großkaliber-/Standardpistole.
Der Schießsport rückt meist nur alle vier Jahre in den Fokus der Öffentlichkeit, weil unsere Wettkämpfe traditionsgemäß zu Beginn der Spiele terminiert sind. Deshalb konnten wir sehr oft schon die erste Goldmedaille für das deutsche Olympiateam holen und Schießen optimal präsentieren. Das freut uns natürlich und macht alle Schützen auch stolz, aber wer jetzt glaubt, dass ich bei Olympia immer vor Ort bin und mich deshalb beneiden, dem muss ich sagen, das stimmt leider nicht! Da es im Schießsport viele verschiedene Disziplinen gibt, aber meist vom IOC, dem Internationalen Olympischen Komitee, nicht genügend Akkreditierungen zugeteilt werden, haben wir einfach zu wenig Plätze zur Verfügung.
Meine Arbeit spielt sich eher zwischen den Olympischen Spielen ab, zum Beispiel bei proaktivem Füllen von Lücken, bei der Optimierung der Leistungsdiagnostik, der Biomechanik, der Motorik, bei Fragen der sportgerechten Ernährung und so weiter. Im internationalen Schießsport geht es heutzutage um Hundertstel-Millimeter (so reicht es zum Beispiel in der Disziplin Luftgewehr nicht immer, eine „10“ zu treffen, es muss schon eine 10,4 aufwärts im Schnitt sein, damit das Finale erreicht wird; die „10“ ist dabei gerade mal 0,5 Millimeter groß) – und da gibt es für uns nutzbares Entwicklungspotential, sind wir in einigen Bereichen schon etwas im Hintertreffen. Oder wir bieten Seminare für interessierte Sportschützen an, etwa zu Themen wie „Leistungsbestimmende Faktoren im Schießsport“, „Ernährung im Schießsport“ oder „Von der Sichtung zum Weltklasse-Athleten“. Zum Beispiel testen wir den Gleichgewichtssinn, die psychologischen Werte oder die Halteruhe der Teilnehmer, da eine ruhige Hand beim Sportschießen das A und O ist. Beim Druckverlauftest wird die Feinkoordination beim Abziehen für einen sauberen Schuss getestet. Mittels einem Rumpfkrafttest können wir vorhandene Dysbalancen im Rumpfbereich feststellen. So erreicht unser Wissen nicht nur Athleten/innen unterhalb der Nationalkaderstufe, sondern auch die begleitenden Trainer können hier ihr Wissen ergänzen und auffrischen.
Blickt man auf die Weltspitze, steht dort die körperliche Fitness fest mit auf dem Trainingsplan. Kraft, Ausdauer und Stretching können die Leistung von Schützen durchaus entscheidend fördern – mit gezieltem Training, das nicht immer nur am Schießstand stattfindet. So umfasst das Training unserer Athleten eben nicht nur das reine Schießtraining, sondern weitere Aspekte, wie das konditionelle oder auch das psychologische Training. Hier gilt es dann die Unterschiede der Disziplinen zu berücksichtigen und für alle ein maßgeschneidertes Trainingsprogramm zu finden. Von allen Aktiven sollte Krafttraining unter präventiven Gesichtspunkten betrieben werden, auch wenn nicht alle Sportler gleich viel Kraft für ihre Disziplin benötigen. Verletzungen und Überlastungsschäden sowie Dysbalancen kann man damit vorbeugen, je nach Sportart kann Krafttraining jedoch auch leistungssteigernd wirken. Für die leistungsorientierten Sportler unterhalb der Kaderstruktur sollte daher auch schon gelten: Wer zwei- bis dreimal pro Woche mit jeweils einem Tag Pause dazwischen seine Kondition (Kraft, Ausdauer) sinnvoll trainiert, ist sicherlich gut gewappnet.
Dabei ist Kraft nicht gleich Kraft. Man unterscheidet bekanntlich zwischen Maximalkraft, Schnellkraft, Kraftausdauer und dem reaktiven Kraftverhalten. Dabei ist festzuhalten, dass die Maximalkraft eine Basisfähigkeit darstellt, deren Veränderung einen direkten Einfluss auf die Schnellkraft und die Kraftausdauer hat. Die Maximalkraft ist die höchste Kraft, die jemand bei maximaler willkürlicher Kontraktion aufbringen kann, spielt aber im Bogen- und Schießsport nur eine indirekte Rolle. Die Kraftausdauer hingegen wird als von der Maximalkraft abhängige Ermüdungswiderstandsfähigkeit gegen (lang) andauernde Belastungen bei statischer und/oder dynamischer Muskelarbeit angesehen. Sie ist immens wichtig, damit zum Beispiel auch beim letzten Schuss der Pfeil noch konstant und ruhig ausgezogen oder auch die Pistole im nötigen kleinen Halteraum stabilisiert werden kann.
Der Schießsport hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt und versucht, seine Wettkämpfe attraktiver zu machen, so wurden beispielsweise die Finals geändert. Der Weltcup Bogen und die Teilnahme an den DM-Finals mehrerer Sportarten in Berlin 2019 zeigen, dass sich unser Sport emanzipiert, auch die Kugel-Disziplinen. Nächster Höhepunkt sind die Europameisterschaften der Druckluftathleten über 10 Meter, sie finden vom 23. Mai bis 6. Juni 2021 im kroatischen Osijek statt, außerdem werden dort Titel und Medaillen mit Gewehr (300 m und 50 m) sowie Pistole (50 m und 25 m) ausgeschossen. Und vom 23. Juli bis 8. August stehen ja – bis jetzt noch – die Olympischen Spiele in Tokio auf dem Programm.
Meine eigenen sportlichen Ambitionen sind dabei nicht auf spezielle Dinge dauerhaft fokussiert, es ist eher ein neugieriges Ausprobieren. Neben dem Schwimmen, hier bin ich Mitglied der DLRG, drehe ich gerne joggend meine Runden. Regelmäßig wird auch das heimische Wohnzimmer zum Ort schweißtreibender Kraftübungen. In Wiesbaden habe ich vor kurzem mit Krav Maga angefangen, da auch diese Seite des Sports mich einmal gereizt hat. Und das Beste ist, dass ich über meinen Beruf viele Kontakte zu anderen Sportarten habe und hier tolle Einblicke bekomme. So durfte ich bereits am Königsee im Viererbob die Bob- und Rodelbahn erleben, als auch einmal vor den Augen der Eishockeydamen meine Unfähigkeit des Schlittschuhlaufens unter Beweis stellen. Und auch wenn der Puck hier mehr Fremdkörper für mich war, sind solche Erfahrungen einfach jedes Mal ein tolles Erlebnis.
Stefan Müller kam 1979 in Mühlacker zur Welt und wohnt heute mit seiner Familie – Frau, Sohn (8 Jahre, macht Karate und spielt Fußball) und Tochter (geboren im Februar 2021) – in Aurich, einem Ortsteil von Vaihingen/Enz (Landkreis Ludwigsburg). Seit fünf Jahren ist er Bundestrainer Sportwissenschaft im Deutschen Schützenbund und zudem Vize-Sprecher der Wissenschaftskoordinatoren der Sommersportarten.
[Fotos: Pressefoto Baumann & privat]