Marc Lieb: Der FIA-Langstrecken-Weltmeister

Schon mein Großvater war Motorsportfan, ebenso mein Vater, der als Mechaniker bei Porsche arbeitete und dessen Traum es war, Rennfahrer zu werden. Das klappte zwar nicht ganz, aber ich kam von klein auf mit dem „Rennvirus“ in Berührung. Es wunderte also niemanden, dass ich schon mit fünf Jahren in einem Kart saß und Clubrennen bestritt. Als ich dann – endlich – zwölf Jahre wurde und damit das Mindestalter für eine Lizenz hatte, durfte ich bei ersten „richtigen“ Rennen starten. Schnell bemerkte mein Vater mein Talent, entwickelte es Schritt für Schritt, und die Familienausflüge am Wochenende richteten sich nach dem Rennkalender.

Da unsere finanziellen Mittel begrenzt waren, bastelten und schraubten mein Vater und ich in jeder freien Minute an einem sieben Jahre alten Formel Renault herum. Wir haben sehr viel selbst gemacht, um aus dem Material das Maximum herauszuholen, und dadurch entwickelte sich ein super Vater-Sohn-Verhältnis. Mit diesem Formel Renault fuhr ich erstmals im Formelsport mit – unser Ziel war die Formel 3, aber das war noch eine ganz andere Liga und damals für uns finanziell utopisch. Aufgrund des permanenten Geldmangels musste ich schon früh darauf achten, möglichst keinen Unfall zu bauen, um Schäden zu vermeiden. Wenn es größer gescheppert hätte, wäre alles sofort vorbeigewesen. Aber so habe ich gelernt, schnell zu fahren – und gleichzeitig aufs Material zu achten. Diese Einstellung kam mir sicherlich später auch bei den Langstreckenrennen zugute.

Die ersten Motorsporterfolge stellten sich in der Formel Renault 1800 (Vizemeister 1997), später in der Formel Renault 2000 ein. Nach dem Abi absolvierte ich meinen Zivildienst an einer Behindertenwerkstatt in Ludwigsburg und betreute zudem mit einem Behinderten zusammen halbtags die Schilderstelle der Kfz-Zulassungsstelle des Landratsamtes. Nach dem Zivildienst schrieb ich mich an der Uni Stuttgart für den Ingenieursstudiengang „Fahrzeug- und Motorentechnik“ ein, doch nach zwei Semestern konzentrierte ich mich wieder ausschließlich aufs Rennfahren.

1999 fuhr ich erstmals in einem kleineren professionellen Team, das die Autos vorbereitete. 2000 kam ein Brief von Porsche aus Weissach mit der Einladung zur Sichtung für das Porsche Junior Team. Als ich die Sichtung gewinnen konnte, war ich für drei Jahre Mitglied im Junior Team – ein erstes Schlüsselerlebnis für mich! Es folgte die Profikarriere als Werksfahrer – mit 23 Jahren, das war eine richtig tolle Geschichte. Im selben Jahr hatte ich auch meinen ersten Einsatz beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans. An der Seite von Leo Hindery und Peter Baron beendete ich das Rennen auf dem zweiten Platz der GT-Klasse.

Ich wollte mich aber nie allein auf eine Karriere als Rennfahrer verlassen, ich bin ein rationaler Mensch. Die Rennfahrerei ist ein kurzlebiges Geschäft, und die Saison 2004 lief nicht nach Plan. Ich dachte mir: Wenn irgendetwas schiefgeht, dann stehe ich mit leeren Händen da. Inzwischen hatte ich geheiratet, 2005 kam mein erster Sohn zur Welt – ich hatte plötzlich Verantwortung nicht nur für mich, sondern für eine Familie. Die ist sehr wichtig für mich und erdet mich. Wenn ich nach Hause komme, ist es nicht wichtig, ob ich Zweiter oder Dritter geworden bin. Deshalb belegte ich an der Fachhochschule Esslingen den Studiengang „Fahrzeugtechnik“ und „baute“ 2009 nach sieben Semestern mit meiner Abschlussarbeit zum Thema „Differentialgetriebesperre“ das Diplom – ich war damit Fahrzeugtechnik-Ingenieur. „Nebenbei“ fuhr ich unter anderem den GT2-Titel in der Le Mans Series ein und feierte mehrere Gesamtsiege beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring.

Nach Abschluss meines Studiums arbeitete ich nicht nur als Profi-Rennfahrer, sondern auch rund 25 Stunden pro Woche in der Porsche-Performance-Abteilung in Weissach an Projekten wie dem Porsche 911 GT3 R Hybrid oder dem Bodywork für die 2013er Version des Porsche 911 GT3 R. Der Plan war eigentlich, den Bürojob immer weiter auszubauen, damit ich mehr Zeit für meine Familie hätte. Doch dann entschied ich mich 2012, den Ingenieursjob in Weissach aufzugeben und mich nur noch auf das Rennfahren zu konzentrieren. Das kostete mich zwar große Überwindung, aber ich wollte lieber eine Sache richtig machen, statt zwei Sachen nur halb. Rund um meinen Job als Werksfahrer wurden es immer mehr Reisen und Pressetermine, allein in der Saison 2012 tourte ich rund 170 Tage um den Globus.

Vier Siege bedeuteten mir bis zum Ende meiner Fahrerlaufbahn 2016 sehr viel und werden mir immer in Erinnerung bleiben. Zunächst mein erster Erfolg beim 24-Stunden-Rennen von Spa-Francorchamps 2003, als wir uns in einer wahren Regenschlacht in einem Auto der kleineren Klasse den Gesamtsieg schnappten, davon hatte ich schon als Kind geträumt. Mein erster Sieg beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring 2007 wird mir ebenfalls immer gegenwärtig sein. Und schließlich zwei Ereignisse 2016, in meinem letzten Jahr als Rennfahrer. Im Juni holten meine Kollegen Neel Jani (Schweiz), Romain Dumas (Frankreich) und ich mit dem Porsche 919 Hybrid den Gesamtsieg in Le Mans – ein großer Moment, denn dieses Rennen ist einfach ein Mythos! Als Krönung des Jahres gewannen wir dann noch die FIA-Langstrecken-Weltmeisterschaft, eine 2012 ins Leben gerufene Langstreckenrennserie für Sportprototypen und Gran Turismos. Und noch ein toller Moment: Im September 2013 gelang mir mit dem Supersportwagen 918 Spyder ein Streckenrekord auf der Nordschleife des Nürburgrings, als ich mit der Straßenversion des Fahrzeugs als erster Rennfahrer unter sieben Minuten blieb. Angesichts dieser genannten Momente verwundert es sicher niemanden, dass Spa-Francorchamps und die Nürburgring-Nordschleife meine Lieblingsstrecken sind …

Heute bin ich immer noch bei Porsche, sicherlich auch aus Loyalität und weil ich dort so viele Chancen und Möglichkeiten geboten bekam. Ich mag die Firma einfach, sie hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Nach vier Jahren im Vertrieb Motorsport bin ich heute Teamleiter der Sportkommunikation, wir begleiten beispielsweise die Pressearbeit beim Porsche Tennis Grand Prix, die Motorsportaktivitäten und engagieren uns bei der Jugendarbeit beim Thema „Turbo für Talente“ bei unseren Partnervereinen (MHP Riesen/Basketball, Bietigheim Steelers/Eishockey, Stuttgarter Kickers/Fußball, RB Leipzig/Fußball).

Mein ganz persönlicher Schwerpunkt ist meine Familie, weshalb ich als Rennfahrer das Design meines Helms mit den Namen Alexandra, Benedict und Jonathan geschmückt habe. Meine Frau ist die „gute Seele“ der Familie, die mir immer den Rücken freigehalten hat. Meine beiden Söhne Benedict (16) und Jonathan (11) spielen beim Hockey-Club Ludwigsburg Feldhockey, der 1912 gegründete Verein ist ein toller, familiär geführter Club, bei dem die Jungs nicht nur den Sport, sondern auch fürs Leben lernen. So oft ich Zeit habe, schaue ich ihnen bei Hockeyspielen zu, für Fußball und Joggen fehlt mir immer öfters die Zeit. Sehr gerne entspanne ich beim Lesen, am liebsten Biographien von Politikern und Sportlern. Zuletzt haben es mir die Memoiren von Barack Obama angetan.


Marc Lieb, in Cannstatt geboren und bekennender VfB-Fan, lebt mit Ehefrau Alexandra und den Söhnen Benedict und Jonathan in Ludwigsburg. Er saß mit fünf Jahren erstmals in einem Kart, fuhr mit zwölf seine ersten Rennen und qualifizierte sich für das Porsche Junior Team. 2003 wurde er Werksfahrer bei Porsche, später Porsche-Entwicklungsingenieur und 2016 FIA-Langstrecken-Weltmeister. Nach Beendigung seiner Laufbahn als Rennfahrer hat er im Vertrieb Motorsport gearbeitet, seit März 2021 ist er Teamleiter der Sportkommunikation.

[Fotos: Pressefoto Baumann & privat]