Klaus Schlütter: Der weltmeisterliche Sportjournalist
Meine berufliche Laufbahn hat bei einer Lokalzeitung angefangen, in der Sportredaktion der Heidenheimer Neuesten Nachrichten. Später wechselte ich zur Heidenheimer Zeitung – damals gab es in der 50.000-Einwohner-Stadt an der Brenz erstaunlicherweise drei Tageszeitungen, die dritte war das Heidenheimer Volksblatt. Der harte Konkurrenzkampf war eine gute Schule für meinen späteren Job.
1965 erhielt ich ein Angebot der BILD-Zeitung. Meine Freunde frozzelten: „Pass auf, bei dem Blatt läuft das Blut unten raus.“ Ich holte mir Rat beim gebürtigen Berliner Walter Zarth, dem erfahrenen Chef des „Grünen Sportberichts“ in Stuttgart, der auch Vorsitzender der Sportpresse Württemberg (VSW) war. Er sagte: „Junge, mach dat! In zwei, drei Jahren hast du das nötige Rüstzeug und gehst zur Stuttgarter Zeitung.“ Ich bin dann aber bei BILD geblieben, weil mir der Job gefallen hat, und aus den zwei, drei Jahren wurden 41 in der Redaktion Esslingen bis zum Ruhestand.
Geboren in Zella-Mehlis in Thüringen. Als Zehnjähriger mit den Eltern die Flucht über die grüne Grenze mit den Eltern in den Westen. Meine erste Sportart war Luftgewehrschießen. Ich war einigermaßen talentiert – als Junior gehörte ich zur württembergischen Sonderklasse. Doch dieser Sport war mir auf Dauer zu langweilig. Ich wollte mehr Action und wurde Fußballer beim VfL Gerstetten auf der Alb. In späteren Jahren kamen Volleyball in der Sportschule Ruit und Tennis beim TSV Kirchheim-Ötlingen dazu, wo ich in der Seniorenmannschaft immer noch voller Begeisterung den Schläger schwinge.
Zurück zum Fußball, der mich mein ganzes Leben lang begleitet und begeistert hat, sowohl aktiv in diversen Presse-Kicks als auch passiv als Reporter. Ein Highlight war die Journalisten-WM 1994 im Rahmen der „richtigen“ Fußball-WM in Los Angeles. Im Endspiel bezwangen wir die Argentinier mit 5:0 und durften uns stolz „Journalisten-Weltmeister“ nennen. Die Jungs von Bundestrainer Berti Vogts waren zu diesem Zeitpunkt schon ausgeschieden – als Titelverteidiger im Viertelfinale mit 2:3 gegen Bulgarien.
Jahrzehntelang habe ich mit meinen Kollegen in Ruit in der Halle gekickt. Der Mittwoch-Mittag war uns heilig. Immer wieder waren prominente Gäste dabei. Oft zauberte „Buffy“ Ettmayer mit. Oder FIFA-Schiri Markus Schmidt. Früher VfB-Trainer Albert Sing. Eine ganz schlimme Stunde bei den ansonsten sehr unterhaltsamen Kicks mit viel Gaudi und Wiener Schmäh mussten wir am 28. Mai 1998 erleben, als Dieter Renner, ehemaliger Spieler und Trainer der Stuttgarter Kickers, einen Herzinfarkt erlitt und trotz intensiver Wiederbelebungsversuche vor unseren Augen starb.
Frisch verheiratet mit meiner Heidi, wechselte ich 1965 zu Bild. 1972 kam unsere Tochter Gaby zur Welt. Ich war beruflich viel unterwegs, zu Hause in Denkendorf hielt mir meine Frau den Rücken frei. Als Fans erlebten wir beide gemeinsam bei der WM 1966 im Londoner Wembley-Stadion das berühmte dritte Tor. Beruflich berichtete ich dann von Mexiko 1970 bis hin zum „Sommermärchen“ 2006 live über neun Fußball-Weltmeisterschaften, von neun Olympischen Sommerspielen, von zahlreichen Leichtathletik- und Fecht-Weltmeisterschaften und weit mehr als 1.500 Bundesliga-, Europapokal- und Länderspielen. Nachträglich frage ich mich, wie das möglich war. Die Antwort: Am Ende der Laufbahn hatte ich über 500 Urlaubstage angesammelt (und verschenkt). Kein Problem für einen, für den der Beruf immer sein Hobby war.
Verrückte Sachen waren dabei. Bei der WM 1970 in Mexiko bewarb ich mich erfolgreich als Stadionordner und erlebte so das Endspiel am Spielfeldrand des Aztekenstadions aus allernächster Nähe. Die wie entfesselt aufspielenden Brasilianer wurden gegen eine überforderte „Squadra Azzurra“ mit 4:1 zum dritten Mal nach 1958 und 1962 Weltmeister. Nach dem Schlusspfiff gab es kein Halten mehr. Als der überragende Pelé auf Schultern über den Rasen getragen wurde, war ich plötzlich Teil der feiernden brasilianischen Spieler und Fans. Die WM in Mexiko wurden übrigens im Fernsehen erstmals weltweit in Farbe übertragen, auch die gelben Karten für Verwarnungen feierten Premiere. Das nächste „Mittendrin statt nur dabei“ gab`s dann bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spielen 1972 in München – ich als einer der talentlosesten unter 1.500 „Sängerknaben“ bei den beliebten Fischer-Chören. Wir sangen unter anderem „Es löscht das Meer die Sonne aus“. Der Titel war wie eine böse Vorahnung auf das, was Tage danach im Olympischen Dorf passierte. Der Anschlag auf die israelische Mannschaft erschütterte die Welt und kostete 17 Menschenleben.
Einmal durfte ich die Tour der France mitfahren – im Wagen eines Schweizer Kollegen. Es war die 56. „Grand Boucle“, die der damals 24-jährige Belgier Eddy Merckx bei seiner ersten Teilnahme dominierte. Anfangs lieferte ihm unser Rudi Altig, Straßen-Weltmeister 1966, noch ein Duell auf Augenhöhe. Der gebürtige Mannheimer war 1961 und 1962 Bahn-Weltmeister in der Einer-Verfolgung. Bei der Tour `69 gewann Rudi den Prolog und fuhr eine Etappe im Gelben Trikot des Spitzenreiters. Plötzlich machten Dopinggerüchte um seine Person die Runde. „Alles gelogen!“, erklärte Altig und schwor „beim Augenlicht meiner Tochter“, nichts Verbotenes eingenommen zu haben. Tour-Arzt Dr. Pierre Dumas konnte ihm jedoch die Einnahme von Amphetaminen nachweisen und bezeichnete Altig als „fahrende Apotheke“. Die drohende Disqualifikation erledigte sich von selbst: In den Vogesen stürzte er schwer und musste aufgeben. In Paris hatte Tour-Sieger Merckx, genannt „der Kannibale“, fast 18 Minuten Vorsprung auf die beiden Franzosen Roger Pingeon und Raymond Poulidor.
Unvergessen im selben Jahr die Begleitumstände für das WM-Qualifikationsspiel auf Zypern. 36 deutsche Journalisten wollten aktuell aus Nikosia berichten. Doch das ging nicht – die Telefongesellschaft auf der Insel streikte. Der Vorschlag meines Verlags, ein Flugzeug zu chartern, um nach dem Spiel nach Beirut zu fliegen und von dort aus den Spielbericht zu übermitteln, scheiterte an den hohen Kosten. Zufällig erfuhr ich, dass ZDF-Moderator Helmuth Bendt eine kleine, dreisitzige Maschine angemietet hatte, um noch am selben Abend vom Libanon aus ins ZDF-Sportstudio nach Mainz weiterzufliegen. Ich bat Bendt, mich per Kostenbeteiligung bis Beirut mitzunehmen. Er stimmte zu.
Im Libanon war Kriegszustand, er herrschte Nachtflugverbot. Deshalb mussten wir schon bei Halbzeit in Nikosia abfliegen, um nicht in die Dunkelheit zu kommen. Beim Start stand es 0:0. Unterwegs braute sich über dem Mittelmeer ein schweres Gewitter zusammen. Unser japanischer Pilot war damit beschäftigt, einen neuen Kurs zu berechnen. Als sein „Co-Pilot“ wies er mich an, so lange den Steuerknüppel zu übernehmen. Voller Stolz drehte ich mich zu meinem kreidebleichen ZDF-Kollegen um und sagte: „Guck mal, Helmuth. Ich fliege!“ In diesem Moment ließ ich kurz das Steuer los und die kleine Maschine reagierte sofort mit einem kleinen Sturzflug. Zum Glück reagierte der Pilot blitzschnell und fing den Flieger wieder ab.
Bei der Landung in Beirut war es schon stockdunkel. Bendt rannte los durch die Sperre. Vergeblich. Die letzte Maschine Richtung Deutschland war schon in der Luft. Weil ich an der Grenzkontrolle kein gültiges Ticket nachweisen konnte, wurde ich abgeführt. Erst als der Pilot für mich bürgte, durfte ich endlich zum Telefonschalter. Nach bangen zwei Stunden Wartezeit – die Bild am Sonntag hatte längst angedruckt – konnte ich für einen Teil der Auflage den 1:0-Sieg (Torschütze Gerd Müller in der 93. Minute) vermelden. Am nächsten Tag traf ich unsere Nationalspieler, die inzwischen aus Zypern angekommen waren, auf dem Flughafen in Istanbul. Am Kiosk kaufte Helmut Schön die BamS mit der genialen Schlagzeile: „1:0 – für Zyperns Post“. Als der Bundestrainer bass erstaunt die Frage stellte, „wie habt ihr das geschafft?“, war ich stolz wie Oskar.
Mit dem „Langen“ hatte ich ein weiteres, lustiges Erlebnis. Wir flogen in derselben Maschine nach Sofia, um den nächsten WM-Quali-Gegner Bulgarien zu beobachten, Schön für seine Nationalmannschaft, ich für meine Zeitung. Im Hotel war für mich kein Zimmer mehr frei. Da bot mir der Bundestrainer spontan ein Bett in seinem Doppelzimmer an. Ich sagte dankbar „ja“, bereute es aber schnell. Denn die Nacht war grausam. Der Mann mit dem großen „Zinken“ schnarchte so fürchterlich, dass ich kaum ein Auge zumachen konnte. Am nächsten Morgen war ich wie gerädert. Irgendwann im Laufe der Nacht musste ich jedoch auch ein paar Geräusche von mir gegeben haben, was mir Schön am Frühstückstisch vorwurfsvoll unter die Nase rieb: „Sie haben aber ganz schön geschnieft heute Nacht.“
Schluss jetzt mit den schönen alten Geschichten. Genug der Storys, die heutzutage in dieser Form undenkbar wären. Damals waren wir einfach näher dran am Geschehen. Wir hatten engen Kontakt zu den handelnden Personen, waren mit ihnen auf Du und Du. Es entstanden Freundschaften, die dauerhaft hielten. Heute ist das kaum noch möglich. Die Distanz zu den Sportlern ist wesentlich größer geworden. Speziell die Fußballstars werden von ihren Vereinen oder Privatmanagern fast wie Leibeigene gehalten. In Interviews, die in der Regel zensiert werden, werden nur noch Allgemeinplätze von sich gegeben, um keine Strafen zu riskieren. Bedauerlich für die heutige Generation der Kollegen. Ich bin froh, noch die Sonnenseiten dieses spannenden, erfüllenden, einfach tollen Berufs erlebt zu haben.
Klaus Schlütter wohnt mit Frau und Tochter in Denkendorf. Er war sechs Jahre Sportjournalist in Heidenheim und 41 Jahre Sportchef bei BILD-Stuttgart mit einem großen Herzen für die „Roten“. Als Buchautor (unter anderem „111 Gründe, den VfB Stuttgart zu lieben“) blickte der Dino unter den VfB-Experten vor und hinter die Kulissen des schwäbischen Renommierklubs. In seinem Berufsleben berichtete er von jeweils neun Fußball-Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Klaus Schlütter war Kapitän der Stuttgarter Sportpresseelf, hat jahrelang die VSW-Fußballspiele organisiert, in den Glanzzeiten zwischen 20 und 25 pro Saison. Heute ist er noch Vorstandsmitglied im Hilfsverein Sportpresse Württemberg.
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