Charlotte Glaser: Europameisterin im Kickboxen

Diesen Abend werde ich niemals vergessen, aber nicht nur ich, sondern auch meine Mutter. Sie saß damals bibbernd im Publikum. „Das tust Du mir nie mehr an!“, forderte sie später, als alles vorbei war. Und in der Tat war das mein schwerster Kampf, am 12. Februar 2020 bei der Nürtinger Fightnight in der Stadthalle K3N. Bei dem Kampf ging es um den vakanten Europameisterschaftsgürtel in der Kategorie Vollkontakt bis 60 Kilogramm der World Kickboxing and Karate Union (WKU), einem von insgesamt acht Verbänden im Kickboxen.

In diesem Kampf traf ich als amtierende Deutsche Meistern (bis 57 Kilogramm) auf die dreimalige Schweizer Meisterin und viermalige Amateurweltmeisterin Linda „The Tiger“ Schlup. Und das war kein normaler Kampf. In der ersten und zweiten Runde fand ich nicht richtig in den Kampf und musste unheimlich viel einstecken. Meine Mutter – und auch meine Fans – waren hell entsetzt und hätten in diesen Momenten sicherlich keinen Cent mehr auf mich gesetzt, denn die Schweizerin dominierte fast nach Belieben. Mein Trainer Ertekin Arslan wollte sogar schon das Handtuch werfen! Doch Dennis Ulrich, mit dem ich viel trainiert habe und der mich deshalb gut kennt, verhinderte dies: „Warte ab, sie kommt noch!“

Die dritte Runde verlief dann auch relativ ausgeglichen, die Runden vier und fünf konnte ich anschließend klar für mich verbuchen. Wäre Linda Schlup die Titelträgerin gewesen, hätte sie mit diesem Unentschieden, das die Punkterichter werteten, ihren Gürtel verteidigt, weil es aber um einen vakanten Titel ging, musste der Kampf in die Verlängerung. WKU-Präsident Klaus Nonnemacher rief also zu einer alles entscheidenden sechsten Runde auf. Hier konnte ich noch einmal alles zeigen und mir am Ende den einstimmigen Sieg sichern – ich war endlich Europameisterin! Ringsprecher Tobias Gerold bat zur Siegerehrung Nürtingens Oberbürgermeister Dr. Johannes Fridrich in den Ring, der mir den hart erkämpften Gürtel umlegen durfte.

Es war ein langer Weg, den ich bis zu diesem Titel zurücklegen musste, und meine Familie unterstützte mich die ganze Zeit. Papa schafft beim Daimler, Mama bei Kemmler in Zizishausen, und auch mein großer Bruder Georg ist mittlerweile sehr stolz auf das „Nesthäkchen“. Meine große Schwester Paula nahm mich, als ich acht war, mit zum Karate bei Shotokan in Frickenhausen, wo ich sechs Jahre lang trainierte. Dann habe ich drei Jahre beim FV 09 Nürtingen Fußball gespielt, meist in der B-Jugend, aber auch in der ersten Frauenmannschaft. In meiner „Kicker-Phase“ war ich aber oft verletzt und musste deshalb pausieren, so dass ich 2013, mit 17 Jahren, mit dem Kickboxen begann. Ich wollte was „Actionreiches“ machen, wollte kämpfen und auf Turniere gehen. Nach dem Abi 2016 auf dem Högy Nürtingen – meine Lieblingsfächer waren Sport und – Mathematik (!) –, konzentrierte ich mich noch mehr aufs Training und betrieb lange Zeit Point Fighting.

Point Fighting ist eine Kampfdisziplin, bei der zwei Kämpfer gegeneinander antreten mit dem primären Ziel, definierte Punkte durch kontrollierte, erlaubte Techniken mit Schnelligkeit, Agilität und Fokus zu erzielen. Es ist eine technische Disziplin mit gleicher Wertschätzung für Hand- und Fußtechniken, die streng kontrolliert werden. Nach jedem erfolgreichen Treffer am Körper des Gegners wird der Kampf kurz unterbrochen, und die Kämpfer begeben sich wieder in die Ausgangsstellung zurück. Nach dem Point Fighting wechselte ich zum Leichtkontakt-, dann zum Vollkontakt-Kickboxen. Stehen keine Wettkämpfe an, trainiere ich sechs bis sieben Mal pro Woche, Ausdauer und Kraft, auf dem Laufband, außerdem natürlich Pratzentraining mit meinem Trainer Massimo De Lorenzo, der jeweils zweimal Welt- und Europameister war und heute Leiter der Kampfsportakademie Esslingen ist.

Die Original-Kampfsportakademie ist in Nürtingen und wurde von Erdekin Arslan gegründet, der mich anfangs auch trainiert hat. Derzeit hat sie zirka 300 Mitglieder, von drei bis 60 oder mehr Jahren! Außerdem gibt es einige Ableger in der Region –, wie Esslingen, Stuttgart-Vaihingen, Kirchheim und Wendlingen – aber auch in Trier oder Hamburg. Es puscht mich immer wieder, dazuzugehören, denn ich arbeite in der Akademie auch als Trainerin, jeden Tag und quer durch mit allen Altersstufen. Ich bin auch Personal Trainerin, zum Beispiel des Nürtinger Oberbürgermeisters Fridrich oder von Leo Kotaidis, dem griechischen Wirt der „Neckarau“, dem Sportheim der TG Nürtingen. Er war ganz schwer an Corona erkrankt, und ich helfe ihm jetzt dabei, wieder ganz fit zu werden. Außerdem studiere ich aktuell bei der Akademie – nicht nur im sportlichen Bereich, sondern auch in der Verwaltung – und an der Dualen Hochschule für Präventions- und Gesundheitsmanagement (DHFG), das Studium dauert insgesamt dreieinhalb Jahre und ich werde im Dezember 2022 fertig sein.

Kickboxen (auch Kickboxing) ist eine Kampfsportart, bei der das Schlagen mit Füßen und Händen wie bei den Kampfsportarten (Karate oder Taekwondo) mit konventionellem Boxen verbunden wird. In den einzelnen Schulen und Sportverbänden ist unterschiedlich geregelt, ob der Gegner gehalten werden darf oder welche Trefferflächen beim Gegenüber erlaubt sind. Allen Verbänden gemeinsam ist das Verbot  von Tiefschlägen, das Schlagen auf den Rücken und auf Gegner, die am Boden liegen, sowie das Werfen des Konkurrenten. Als Wettkampfdisziplin geht es auf das Jahr 1974 zurück, die acht Internationalen Fachverbände sind die World Kickboxing and Karate Union (WKU), der auch ich angehöre, die World Association of Kickboxing Organisations (WAKO), die World Karate and Kickboxing Commission (WKC), die World Kickboxing Federation (WKF), die International Sport Karate Association (ISKA), die World All Fight Symstem Organization (AFSO), die World Tradition Karate Association (WTKA) und die Kampfsportorganisation Glory, ein internationaler Kickbox-Veranstalter.

Vor wenigen Jahren dachte man bei Kampfsport noch an muskulöse, leicht zwielichtige Männer, die sich abends in dunklen Hinterhöfen oder alten Lagerhallen treffen, um sich dann gegenseitig die Seele aus dem Leib zu prügeln. Heute ist dieses Image zum Glück aufpoliert, Kampfsport ist viel populärer und dadurch wurden viele Klischees bereinigt. Zum einen zeigt unser hoher Frauenanteil, dass dieser Sport keineswegs vom Geschlecht abhängig ist. Zum anderen sind schon die Kleinsten fleißig am Üben und auch nach oben gibt es keine Altersgrenze. Jeder bestimmt für sich selbst wie weit er geht und wann er aufhört. Beim Kampfsport wird der ganze Körper beansprucht, man baut Kondition auf und wird beweglicher. Er erfordert Disziplin, Konzentration, taktische Intelligenz und einen starken Willen! Wer sich regelmäßig auspowert, wird im Alltag gelassener und entspannter. Das Wissen, Kampfsport zu beherrschen, verleiht außerdem mehr Selbstsicherheit und führt so zu einer komplett neuen, positiven Ausstrahlung.

Meinen Europameistertitel muss ich bei der nächsten Nürtinger Fightnight am 9. Oktober 2021, wieder im K3N, verteidigen, meine Gegnerin steht noch nicht fest. Der Abend wird von der Kampfsportakademie veranstaltet, sie versucht dabei natürlich, einige ihrer Mitglieder groß herauszubringen und verschiedene Titelkämpfe zu organisieren. In meiner bisherigen Karriere habe ich bereits mehrere Kämpfe um Titel bestritten, 2017 in Athen und 2018 in Bregenz kämpfte ich um die Amateur-Weltmeisterschaft, damals war ich aber noch nicht so gut! 2019 endete ein EM-Kampf in München (bis 57 kg) mit einem Unentschieden, so dass Titel und Gürtel bei der amtierenden Europameisterin blieben. Wenn ich vor einem Kampf „Gewichtmachen“, also mein Körpergewicht senken muss, um in eine niedrigere Gewichtsklasse zu kommen, ist das nicht immer angenehm. Ich muss meine Ernährung umstellen, abends keine oder nur wenig Kohlehydrate zu mir nehmen und vor allem auf Süßigkeiten verzichten! Das ist das Härteste überhaupt!!!

Wenn ich mich einmal nicht sportlich betätige, treffe ich mich sehr gerne mit Freunden oder spiele Playstation. Seit einiger Zeit kamen noch zwei weitere „Hobbies“ hinzu: Mit meinem Freund Markus habe ich das Reihenhäusle meines verstorbenen Opas in Linsenhofen umgebaut und wir sind dort eingezogen. Jetzt kommen also noch Arbeiten in Haushalt und Gärtle dazu!


Charlotte „Charly“ Glaser ist in Nürtingen geboren. Sie ist Europameisterin im Kickboxen in der Kategorie Vollkontakt bis 60 Kilogramm sowie Deutsche Meisterin bis 57 Kilogramm. Im Alter von acht Jahren begann sie mit Karate, spielt bis zur B-Jugend drei Jahre beim FV 09 Nürtingen Fußball, ehe sie 2013 in der Kampfsport-Akademie Nürtingen mit dem Kickboxen begann. Sie wohnt in Linsenhofen und absolviert ein Studium an der Dualen Hochschule für Präventions- und Gesundheitsmanagement.

[Fotos: Niels Urtel & privat]