TOM UND BENNI IN PARIS | Folge 17
09.08.2024
Bei den Olympischen Spielen in Paris hat die SportRegion Stuttgart gleich zwei Sportjournalisten vor Ort – Tom Bloch und Benjamin Lau berichten in der Kolumne TOM UND BENNI IN PARIS exklusiv aus der französischen Hauptstadt. Für den Sportfotografen Benni Lau sind es die ersten Olympischen Spiele, Kollege Tom Bloch war bereits in Rio de Janeiro und in Tokio am Start. Täglich erzählen die beiden über ihre Erlebnisse in der Weltstadt an der Seine im Ausnahmezustand.
Folge 17: Aus, aus, aus. Aus! Der Ball ist aus!
So schnell kann es gehen. Das Team ist seit Tagen im Rhythmus und legt allerfeinsten Volleyball aufs Parkett. Allerdings heißt nun der Viertelfinal-Gegner Frankreich. Nicht nur, dass die Équipe Tricolore als Gastgebernation von knapp 11.000 Zuschauern in der South Paris Arena im Messegelände Porte de Versailles lautstark nach vorne gepeitscht wird, es ist ja auch nicht von ungefähr das Goldmedaillenteam von Tokio 2020 beziehungsweise der aktuelle NationsLeague-Sieger – trainiert vom einstigen bundesdeutschen Auswahltrainer Andrea Giani.
Doch wie schon in der anstrengenden Qualifikation, wie schon in der Vorrunde in Paris, überrascht die deutsche Mannschaft mit ihrem polnischen Trainer Michal Winiarski mit Teamgeist, Durchschlagskraft und unheimlichen Kampfgeist. Die ersten beiden Sätze gehen eindrucksvoll an die junge deutsche Truppe um ihren „Opa“ „Hammerschorsch“ Georg Grozer (39), der schon beim letzten olympischen Auftritt der Nationalmannschaft in London 2012 mit dabei war und seitdem die entsprechende Tätowierung auf der rechten Wade trägt. Die ihn immer wieder kraftvoll nach oben katapultiert, sei es bei seinen erbarmungslosen Sprungaufschlägen mit bis zu 130 Stundenkilometern, oder bei seinen knallharten Angriffen.
Selbst Fachleute hören bei diesem erstklassigen Zweikampf über die 2,43 Meter hohe Netzkante mit dem Zungeschnalzen gar nicht auf. Liegt doch Deutschland mit einer 2:0-Satzführung vorne! Wie bitte?
Doch das französische Team arbeitet sich Punkt für Punkt zurück ins Spiel. Getragen vom Publikum, darunter Frankreichs Premierminister Gabriel Attal, und ihrem Superstar Earvin Ngapeth. Satzausgleich. Die Halle steht Kopf. Satzausgleich, entschieden vom Schiedsrichter, der ein einhändiges Zuspiel von Anton Brehme als „geführt“ abpfeift und dadurch für den Satzgewinn für Frankreich sorgt. Und für Unmut bei Deutschlands Kapitän Lukas Kampa, der sich beschwert, und dafür beim Anpfiff des spielentscheidenden Tiebreaks als erstes ebenfalls eine Gelbe Karte kassiert.
Dieser Tiebreak reiht sich fortan nahtlos in den bisherige Spielverlauf ein: als Thriller. Während sich beide Teams auf dem Spielfeld auf allerhöchsten Volleyballniveau die Seele aus dem Leib spielen, kommt es natürlich auch zu Nicklichkeiten am Netz. Selbstverständlich, bei so viel freigesetztem Adrenalin und Testosteron. Wer will es den Spielern verübeln, die sich die Seele aus dem Leib spielen? Nun ja, der Schiedsrichter.
Er hat Frankreichs Superstar Earvin Ngapeth wegen zu sehr aggressiven Jubelns durchs Netz hindurch schon in Satz vier mit einer Gelben Karte verwarnt. Beim Stand von aus deutscher Sicht 5:8 im Tiebreak bestraft er plötzlich Deutschlands Mittelblocker Tobias Krick, der nach einem astreinen Punkt erst jubelt und dann stier durchs Netz auf den Gegner blickt. Zu aggressiv, in den Augen des Mannes mit der Pfeife.
Kurios, aber regelkonform: Weil er das deutsche Team bereits einmal mit Gelb versorgte, muss er Rot geben. Was im Volleyball keine Herausstellung, aber einen Punktgewinn zur Folge hat. Und damit steht es 5:9. Die Aufregung ist groß. Durch die deutsche Brille gesehen sogar verständlich. Wieso lässt man ein solch hochdramatische Partie nicht von den Spielern entscheiden?
Und trotz des Rückstands und dieses Dämpfers kämpft sich das deutsche Team wieder ran. Vor allem durch die risikoreiche Aufschläge, die eben aber auch öfters im Netz landen und nachher in Summe für die Entscheidung sorgen. Beim Stand von 13:14 wechselt Winiarski Ruben Schott für den Aufschlag ein. Der bis dahin kaum gespielt hat, aber über einen gefährlichen Sprungaufschlag verfügt. Volles Risiko: Schotts Aufschlag setzt aber wenige Zentimeter nach der Linie auf. 13:15. Nach über zwei Stunden nervenzereissendem Schlagabtausch ist es das ganz plötzlich dann gewesen. So schnell kann es gehen.
Frankreich jubelt unbändig gemeinsam mit 11.000 Fans. Deutschlands Medaillenträume sind auf einen Schlag geplatzt. Die anfangs als vollmundig betrachtet wurden, aber bei dem Auftreten auf olympischem Parkett durchaus als gerechtfertig angesehen werden mussten.
Neben Tränen, die fließen, folgen große Szenen. Während Cheftrainer Michal Winiarski völig leergepumpt vor sich hinstarrt, schart Co-Trainer Thomas „Bob“ Ranner, der lange Zeit für den Stuttgarter Volleyball-Nachwuchs im Einsatz war, die Mannschaft zusammen. Trost ist gefragt. Und dann kommt Frankreichs Superstar Earvin Ngapeth auf die deutsche Seite und umarmt Deutschlands Superstar Georg Grozer minutenlang.
Der sich später allein bei den auf das Spielfeld aufgeklebten Olymischen Ringen hinkniet und diese streichelt. Es war wohl Grozers letzte Chance auf eine olympische Medaille. Die zum Greifen nahe war. Bleibt zu hoffen, dass diese vielversprechende Mannschaft samt ihrem Trainerteam weitgehend zusammenbleibt.
„Aus, aus, aus. Aus! Der Ball ist aus… Deutschland ist Olympiasieger!“ Es bleibt ein Traum. Vorerst.
Tom Bloch
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