MEIN MOMENT | Tür an Tür mit Julian Nagelsmann
  22.11.2021


In der Serie MEIN MOMENT kommt in jeder Woche eine Person zu Wort, die im vergangenen Vierteljahrhundert einen besonderen sportlichen Moment erlebt hat. In der 47. Folge geht es um Matthias Becher, den Geschäftsführer der Stuttgarter Kicker, der 2016 mit dem Hockey-Nationalteam als Co-Trainer die Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen gewonnen hat.

Matthias Bechers Rückblick

Bei den Stuttgarter Kickers habe ich am 15. August 2020 als Geschäftsführer meine Arbeit aufgenommen und fühle ich mich pudelwohl! Schon das erste Gespräch in der Bewerbungsphase mit Präsident Professor Dr. Rainer Lorz verlief total positiv, und das Auftreten des Präsidenten, seine Pläne und auch der Vertrauensvorschuss, den ich gespürt habe, haben mich bestärkt, das „Projekt Kickers“ anzugehen. Dinge umzusetzen, professionell, aber doch auch familiär miteinander umzugehen – das hat mich sehr gereizt. Die Kickers verfügen, obwohl aktuell in der Oberliga Baden-Württemberg angesiedelt, über ein professionelles Set-Up; alle handelnden Personen setzen sich leidenschaftlich für den Verein ein, der super Strukturen aufweist. Für mich ist extrem wichtig, dass man miteinander und vor allem auch lösungsorientiert arbeitet und man sich verbindlich aufeinander verlassen kann. Und diese Erwartungshaltung wurde bisher ganz klar übertroffen! Das Projekt und die Zusammenarbeit motivieren mich aktuell sehr! Wir sind ein Traditionsverein, und wer bei den Heimspielen oder an anderen Orten diese besondere Kickers-Atmosphäre gespürt hat, weiß, wovon ich rede.

Ursprünglich komme ich aus dem Hockey und habe in meiner Jugend bis zum Alter von 18 Jahren aktiv gespielt. Allerdings war ich nicht gerade der talentierteste Athlet und habe schnell gemerkt, dass ich meine Stärken eher an der Seitenlinie einbringen konnte, so dass ich schon mit 16 Jahren Trainer von Jugendteams wurde. Als gebürtiger Mannheimer legte ich 2007 am Liselotte-Gymnasium in der Quadratestadt mein Abitur ab. Anschließend leistete ich ein Freiwilligens Soziales Jahr (FSJ) beim Kölner Hockey & Tennis Club Rot-Weiß ab, als Jugendtrainer und Koordinator. Ab Oktober 2008 studierte ich dann an der SRH-Hochschule Heidelberg, einer staatlich anerkannten privaten Hochschule, wo ich 2011 meinen Bachelor of Arts in Betriebswirtschaftslehre und 2014 meinen Master im Sportmanagement ablegte. In dieser Zeit arbeitete ich studienbegleitend bei der TSG 1899 Hoffenheim unter anderem mit Julian Nagelsmann und als Praktikant in den Bereichen Merchandising, Marketing, Ticketing und Event-Management bei den Adlern Mannheim. Außerdem war ich damals Verbandstrainer beim Hockeyverband Baden-Württemberg. In Hoffenheim teilte ich mir mit dem heutigen Bayern-Trainer ein Büro und war für die Einführung einer professionellen Videoanalyse-Software im Gesamtverein zuständig. Ab 2013 war ich zudem Co-Trainer der U 17 in der Junioren-Bundesliga. Das war für mich super spannend, weil es mir Gelegenheit bot, Fußball und Hockey über den Tellerrand hinaus zu betrachten, weil ich ja parallel auch noch beim Mannheimer Hockeyclub als Trainer arbeitete.

Von 2014 bis 2016 war ich als Wissensmanager und Bundestrainer beim Deutschen Hockey-Bund (DHB) unter anderem für die duale Talententwicklung und Führung von 30 Spielern verantwortlich. Nachdem ich mit der U-21-Nationalmannschaft als Co-Trainer bereits 2013 in Indien Junioren-Weltmeister geworden war, holte der DHB-Nachwuchs 2014 bei der Junioren-Europameisterschaft in Waterloo (Belgien) nach einer 2:5-Finalniederlage gegen die Niederlande die Silbermedaille. Zwei Jahre später gab es WM-Bronze für die Junioren, als sie im indischen Lucknow – einer 2,8-Millionen-Stadt rund 500 Kilometer östlich von Dehli – das Match um den dritten Platz mit 3:0 gegen Australien gewinnen konnten. 2019 verabschiedete ich mich mit dem Junioren-Europameistertitel in Spanien als Co-Trainer.

Das Highlight meiner Zeit beim Deutschen Hockey-Bund waren aber ganz sicher die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro, die ich als Co-Trainer von Bundestrainer Valentin Altenburg mit der deutschen Männer-Nationalmannschaft erleben durfte. Wir waren nach vier Siegen gegen Kanada (6:2), Indien (2:1), Irland (3:2) und die Niederlande (2:1) sowie einem Remis gegen Argentinien (4:4) mit 13 Punkten souveräner Gruppenerster vor den Niederlanden (10) geworden. Im Viertelfinale, einem „Do-or-die-Spiel“, hatte unser Gegner Neuseeland, ein Gruppen-Vierter, nichts zu verlieren und lag bereits mit 2:0 Toren vorn. Kurz vor Schluss schaffte das deutsche Team den Ausgleich und Sekunden vor dem Abpfiff glückte gar der 3:2-Siegtreffer!

Dieser Erfolgsmoment war schon etwas Besonderes: Solche Emotionen kann eigentlich nur der Sport bieten. Auch Spieler, die zum Teil schon zwei olympische Goldmedaillen gewonnen hatten, waren völlig aus dem Häuschen. Im Halbfinale gegen Argentinien, das bereits eineinhalb Tage später stattfand, mussten wir allerdings diesem dramatischen Viertelfinal-Spiel Tribut zollen, als wir gegen die Südamerikaner keine Chance hatten und 2:5 unterlagen. Der abrupte Wechsel zwischen himmelhochjauchzend nach dem Viertelfinalsieg und zu Tode betrübt nach der Halbfinal-Niederlage, das erklärte Ziel „Gold“ durch die Niederlage im Halbfinale verpasst zu haben – auch diese Gefühlsschwankungen kann eigentlich nur der Sport bieten. Aber es gelang uns allen miteinander, noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren. Und das Spiel um Platz 3 war wieder spannender als jeder Krimi: Wir bezwangen die Niederlande nach einem 1:1 nach Ablauf der regulären Spielzeit mit 4:3 im Penalty-Shootout.

Für mich persönlich definieren sich besondere Momente oder besondere Erfolge nicht nur über das Ergebnis, sondern über einen Dreiklang – bestehend aus Ergebnis, Emotionen und die Entwicklung, der einzelnen Spieler persönlich oder der gesamten Mannschaft. Ich habe einige Spieler seit der U 16 begleitet und dabei gesehen, wie sich ein Jugendspieler in den Jahren – aber auch im späteren Leben – entwickelt, nicht nur sportlich. Wenn einer meiner ehemaligen Spieler heute ein renommierter Arzt geworden ist, erfüllt mich auch dies mit großem Stolz.

Nach Rio beendete ich meine Tätigkeit für den Deutschen Hockey-Bund und arbeitete nicht mehr mit der Nationalmannschaft, sondern nur noch für den Mannheimer Hockeyclub. Die Doppelbelastung war einfach zu viel geworden. Als Vereinstrainer und Sportlicher Leiter legte ich meinen Schwerpunkt auf die Nachwuchsarbeit, kümmerte mich um die männlichen Talente und forcierte die Führung und Trainerentwicklung der 15 hauptamtlichen und 20 Honorar-Trainer des Vereins. In dieser Zeit entstand auch meine Master-Arbeit mit der Thesis „Analyse von Wissensmanagement unter Bundestrainern am Beispiel des Deutschen Hockey-Bundes“. Mit der Bundesligamannschaft des MHC wurden wir 2017 Deutscher Meister und holten 2018 in der Champions-League die Bronzemedaille!

Nachdem ich dann im August 2020 meinen Vertrag als Geschäftsführer bei den Kickers unterschrieben hatte, beendete ich mein Engagement in Mannheim. Als Kurpfälzer habe ich mich im Schwabenland längst bestens eingelebt. Allerdings habe ich auch schon vorher gewusst, dass es „in“ Degerloch und nicht „im“ Degerloch heißt. Insbesondere mit den Gremien, dem Präsidium und dem Aufsichtsrat ist ein hervorragendes Vertrauensverhältnis entstanden, und ich habe ganz schnell erfahren, was diesen Verein auszeichnet.

Von Anfang an hat mich bei den „Blauen“ fasziniert, wie viel Leidenschaft und Emotion in der Arbeit der Kickers-Familie stecken. Mich begeistert die Zusammenarbeit in einer familiären Atmosphäre und ich bin total froh, Teil dieses Vereins zu sein. Diese Mischung aus Tradition und Talentarbeit finde ich beeindruckend. Man atmet auf dem Trainingsgelände und auch im Stadion diese ganz besondere Atmosphäre ein, die es bei den Kickers gibt. Es ist immer wieder faszinierend, Leute wie Ralf Vollmer, die diesen Verein über Jahre geprägt haben, auf der Geschäftsstelle zu treffen. Und wenn dann kurze Zeit später die drei ältesten Jugendmannschaften (U 16, U 17 und U 19) trainieren, die alle in der höchsten Jugendklasse Deutschlands spielen, dann erfüllt einen das doch mit Stolz. Zwei Teams in den beiden Jugend-Bundesligen zu haben – das schaffen eigentlich nur Vereine der 1. und 2. Bundesliga.

Natürlich sind die Zeiten schwer für Traditionsvereine und Corona macht auch uns zu schaffen. Aber wir sind auch einer der wenigen Vereine, der über alle Sportarten hinweg nach Corona keinen Zuschauerrückgang zu spüren hat. Wir haben wieder rund 2.500 Zuschauer pro Spiel und stellen Woche für Woche fest: Die Menschen haben eine besondere Beziehung zu den Kickers. Und gerade in dieser schwierigen Zeit konnte ich am praktischen Beispiel lernen, was „Kickers-Familie“ bedeutet. Diese Hilfsbereitschaft aller Partner, Fans, Mitglieder, Sponsoren, Spieler, Eltern der Jugendspieler und vielen anderen hat mich total beeindruckt. Und hat mir gezeigt, welche Kraft von diesem Verein ausgeht.

Ich war optimistisch, als ich zu den Kickers gekommen bin, aber meine Erwartungen sind sogar übertroffen worden. Vor allem dieses Miteinander gefällt mir, und zwar auf allen Ebenen. Das beginnt auf der Geschäftsstelle, geht in der Abstimmung mit dem Präsidium und der sportlichen Leitung in der ersten Mannschaft und im Nachwuchsleistungszentrum weiter und hört in der Zusammenarbeit mit den Ehrenamtlichen auf. Und wir arbeiten hier unter professionellen Bedingungen. Nicht nur mit unserer Oberligamannschaft, sondern auch im Nachwuchsleistungszentrum. Die „Blauen“ sind nicht nur ein Geschäftsmodell, sie verkörpern Tradition, Herz und Leidenschaft. Natürlich heißt das auch, dass man hier mit Dienst nach Vorschrift nicht weiterkommt. Der ganze Verein verkörpert diese Leidenschaft – und da gehen die Angestellten mit großer Glaubwürdigkeit voran. Durch meine Sportvergangenheit bin ich zudem ein Teamplayer. Und es ist klar, dass die Aufgaben und das Fortkommen eines Vereins nur im Team erledigt beziehungsweise erreicht werden können.


Matthias Becher ist seit 15. August 2020 Geschäftsführer der Stuttgarter Kickers. Der 34-jährige Vater eines Sohnes (vier Monate) – seine Frau ist Sportliche Leiterin bei der TG Böckingen/Heilbronn – wurde in Mannheim geboren, wo er auch aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Bis zum Alter von 18 Jahren spielte er selbst aktiv Hockey, arbeitete aber schon als 16-Jähriger als Trainer verschiedener Jugendmannschaften. Über ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beim Kölner Hockey & Tennis Club Rot-Weiß nach dem Abitur begleitete er verschiedene Trainerstationen als Bundestrainer und war 2016 Co-Trainer der deutschen Männernationalmannschaft, die in Rio de Janeiro Olympia-Bronze gewann. Danach war er Bundesliga-Trainer beim Mannheimer Hockeyclub, mit dem er 2017 die Deutsche Meisterschaft und 2017 die Bronzemedaille in der Champions League holte. Der Hobby-Golfer (Handicap 18) und begeisterter Rennradfahrer wohnt mit seiner Familie seit einem Jahr in Tamm bei Ludwigsburg.

[Foto: Pressefoto Baumann & IMAGO / foto2press & IMAGO / Rene Schulz]