BIG IN JAPAN | Teil 9
  08.08.2021


Mit großen Augen, Kamera, Notizbuch und Stift sowie seinen unübersehbaren 2,08 Meter Körpergröße ist der Stuttgarter Sportjournalist Tom Bloch vor Ort in Tokio bei den Olympischen Spielen und berichtet exklusiv für uns in seiner Serie BIG IN JAPAN.

Tom allein in Tokio

Sodele. Ich habe mir eine Olympische Auszeit genommen und war rein touristisch unterwegs. Eigentlich wollte ich einen Hubschrauberflug buchen, um diese Megalopolis versuchen zu begreifen, aber aus Sicherheitsgründen sind Hubschrauberflüge über Tokio bis nach den Paralympics verboten.

Um trotzdem oben zu sein, bin ich auf die Aussichtsplattform „Shibuya Sky“ auf 230 Metern Höhe gefahren. Als bekennender Höhenangst-Haber war mir dabei schon vorher flau. Mit einer crazy Aufzugsfahrt (total dunkel und die Decke des Aufzugs besteht aus einem riesigen LED-Screen auf dem magische Digitalkunst läuft) geht es nach oben und dort dann an vielen sich verbeugenden und den Weg weisenden Mitarbeitern vorbei raus auf die Plattform. Es windet, und vor dem freien Fall nach unten schützt nur eine bis zum Boden gehende Glasscheibe, (der ich mich nur vorsichtig nähern kann). Und dann liegt sie da unten, quasi zu Füßen, die berühmte Shibuya-Kreuzung, auf der über fünf Zebrastreifen täglich 300.000 Menschen ihre Spuren ziehen, ohne dass es Knoten gibt. Und drum rum: Ein Häusermeer, ein Straßenmeer. Bis zum Horizont. Schwer zu begreifen. Kaum zu beschreiben. Und kaum jemand auf dieser beeindruckend gebauten Plattform.

Tokio ohne Touristen – was für ein Geschenk. Aufgrund von Covid sind die einzigen Ausländer derzeit Leute, die mit Olympia beschäftigt sind. Verlässt man die Olympische Blase, ist man allein unter 36 Millionen Tokiotern. Denn in der Stadt ist von Olympia überhaupt nichts zu spüren. Und so beginnt eine wahrlich beeindruckende Entdeckungsreise, bei der die Wettkämpfe weit weit weg sind.

Zum Beispiel beim U-Bahn-fahren. Wie ÖPNV funktionieren kann in einer knapp 40-Millionen-Menschen-Metropole, zeigt Tokio par excellence. Jeder deutsche Stadtplaner sollte hier mal ein Praktikum machen. Effizienz, Pünktlichkeit und Sauberkeit sind nicht zu übertreffen. Und sicher auch nicht die tägliche Beförderungsmenge. Angenehme Temperatur, exakte Informationen zum Aussteigen oder Umsteigen auf LED-Screens, selbst die Wagennummer wird einem angezeigt inklusive der Richtung zum nächsten Ausgang.

Oder Essen gehen in einem dieser vielen kleinen Lokale, in denen man rund um die Kücheparzelle sitzt und die Koch-Crew auf engstem Raum schwitzen und schuften sieht. Man dort der einzige Fremde ist, ein Goijin also. Aber seine Dumplings mit Ramen in der Brühe plus frittierten Reis genauso schnell und frisch zubereitet bekommt wie die Einheimischen.

Doch plötzlich holt einen die Olympische Blase zurück von der Entdeckungstour. Eine Email erscheint auf dem Smartphone. Vom „Covid Infection Control Support System“. Ich habe vergessen, am Morgen meinen Gesundheitszustand und meine täglich zu messende Körpertemperatur in der dazugehörigen App einzugeben und werde dringend dazu aufgefordert, sonst würden Maßnahmen eingeleitet. Von wegen Tom allein in Tokio. Sie finden Dich überall, auch mitten unter 36 Millionen Menschen.

Aber ein Satz bleibt hängen, der nach der Aufzugfahrt von der „Shibuya Sky“-Plattform nach unten in die wilde Welt von Tokios Straßen so an der Wand hängt, dass er einem ins Auge sticht: „Take your new perspectives into the future.“ Oh ja, das werd’ ich.

BIG IN JAPAN | Teil 9