Jeanette Grau
Gerätturnen bestimmte in jungen Jahren als aktive Sportlerin ihr Leben – und Turnen im Allgemeinen dominiert auch heute noch ihre berufliche Laufbahn: Jeanette Grau (39) ist Prokuristin bei SPIETH Gymnastics, eine der weltweit führenden Firmen, die Turngeräte produziert, Hallenausstattungen plant und umsetzt (auch „Schnitzelgruben“) oder Hinweise auf mögliche Fördermittel gibt. „Unser Ziel ist aber natürlich, Geräte zu verkaufen oder zu vermieten“, lautet die Prämisse. Darüber hinaus tritt SPIETH Gymnastics bei zahlreichen Events als Ausstatter, Sponsor und Unterstützer auf.
Rudolf Spieth, Jahrgang 1909, entwickelte die einst 1831 von seinem Ur-Ur-Großvater Wilhelm Ludwig Spieth in Oberesslingen gegründete Schreinerei zu einer der weltweit bekanntesten Marken für Turngeräte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Rudolf Spieth und seine Firma – auch durch die Freundschaft und persönliche Partnerschaft mit Richard Reuther, einem Oppauer Kunstturner und Konstrukteur –, zu einem der wesentlichen Impulsgeber für das deutsche und das internationale Gerät- und Kunstturnen, weil sie wesentliche technologische Akzente beim Bau moderner Kunstturngeräte setzten. Heute beschäftigt SPIETH in der Zentrale in Altbach am Neckar insgesamt 55 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Turngeräte und das Know-how der Schwaben wurden bei zwölf Olympischen Spielen genutzt und geschätzt, auch bei 53 Welt- und 65 Europameisterschaften, zahlreichen Weltcups und nationalen Meisterschaften waren SPIETH-Turngeräte im Einsatz.
Jeanette Grau turnte von klein auf beim TSV Berkheim und gab 2003 als 18-Jährige im TSV-Verbandsligateam ihr Debüt bei den Frauen. Nach einem kampflosen Sieg im ersten Wettkampf (Gegner SSV Ulm trat nicht an) und einem klaren Heimerfolg gegen den TV Weingarten übernahmen die Berkheimerinnen die Tabellenführung. Jeanette Grau, so belegen es die damaligen Berichte, „stand am Sprung ihren erstmals im Wettkampf gezeigten Tsukahara und erhielt dafür an diesem Gerät mit 7,60 Punkten die Höchstwertung“. Am Boden glänzte sie sogar mit der Tageshöchstnote (8,05). Am Saisonende hatte Newcomer Berkheim nicht nur souverän den Klassenverbleib geschafft, sondern auch den Durchmarsch in die Oberliga! In ihrer weiteren Sportlerinnenkarriere turnte Jeanette Grau dann bis hinauf in die Bundesliga, später blieb sie als Kampfrichterin dem Turnen treu.
Solchermaßen „vorbelastet“ half Jeanette Grau bei der Turn-Weltmeisterschaft 2007 in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle in den Semesterferien mit, damals studierte sie Sport und BWL in Stuttgart. 2009 schloss sie ihr Studium mit Diplom und Bachelor-Titel ab und ließ anschließend noch den „International Master“ folgen. Drei Jahre später begann sie ihre Tätigkeit bei SPIETH in Altbach.
Ihr Arbeitgeber ist Teil der börsennotierten, französischen Unternehmensgruppe ABEO, „die sich mit allem, was Sport ist, beschäftigt, uns aber weitgehend selbständig agieren lässt“. Die Verbindung gebe SPIETH jedoch eine gewisse Sicherheit, „was vor allem während Corona beruhigend war“. Die Firma ist in acht Bereichen tätig, außer im Gerätturnen noch in der Rhythmischen Sportgymnastik, in der Sportakrobatik, in „Team Gym“, Freestyle, „Just for Kids“ und im Judo beziehungsweise im Kampfsport. „Wir produzieren eine spezielle, von SPIETH entwickelte Unterkonstruktion für den Judo- und Budo-Sport. Diese ist, entgegen einem herkömmlichen Sporthallenboden, kein Schwingboden, sondern dient der Dämpfung beziehungsweise dem Kraftabbau. Die Konstruktion muss dann mit Tatami-Matten oder einem entsprechenden Aufbau belegt werden“, erklärt Jeanette Grau.
Aber nicht nur die Produktion und der Verkauf von Turn- und Sportgeräten, Böden und Matten oder Zubehör gehört zum Tagesgeschäft, auch die Ausleihe beziehungsweise Vermietung von Geräten für Veranstaltungen als Vereinsservice. „Im Hof stehen in gepackten und abholbereiten Containern drei Ausstattungssätze zur Verfügung, die Vereine ausleihen können, wenn sie einmalige Veranstaltungen organisieren und durchführen.“ Diese Ausstattungen sind natürlich wesentlich umfangreicher, wenn SPIETH eine Weltmeisterschaft oder gar Olympische Spiele „versorgen“ muss. Bei der WM 2019 in Stuttgart zum Beispiel füllten Turngeräte und sonstiges benötigtes Material 26 Lastwagenladungen und hatten einen Wert von zwei Millionen Euro.
Eine der ersten und wichtigen Entwicklungen von Rudolf Spieth und Richard Reuther nach dem Krieg war die Konstruktion eines neuartigen Federsprungbrettes. Die beiden Freunde erörterten damals die Frage, ob es möglich sei, ein Sprungbrett zu bauen, mit dem Turner höher springen könnten. Im Geburtsjahr der „Spieth Holztechnik GmbH“, 1956, kamen dann bei Olympia in Melbourne die ersten Reuther-Sprungbretter zum Einsatz. Während in den fünfziger Jahren die westdeutschen Kunstturner der internationalen Leistungsentwicklung eher hinterhersahen als mitbestimmten, besaß (West-)Deutschland im Gerätebau Weltgeltung. Und Rudolf Spieth, damals Kunstturnwart des Deutschen Turnerbundes, fertigte in Esslingen modernste Turngeräte, etwa Matten mit doppeltem Schwingboden zum Bodenturnen (Kosten 8.000 Mark) oder einen besonders elastischen Stufenbarren (Entwicklungskosten: 50.000 Mark).
Beide Neuerungen führte der Internationale Turnerbund (FIG), in dessen Technischer Kommission Rudolf Spieth Vizepräsident war, offiziell für alle internationalen Wettkämpfe ein. So rüstete der Esslinger Unternehmer 1964 die Olympischen Turn-Wettbewerbe in Tokio aus, und war auch Olympia-Ausstatter 1968 in Mexiko. 40 Länder kauften schon damals die SPIETH-Produkte oder SPIETH-Lizenzen zum Nachbau. Auf seinem „doppelten Boden“ und am Barren erreichten die Besten der Welt neue Höchstleistungen.
Rudolf Spieth widmete sein ganzes Leben dem Turnen: Neben seiner unternehmerischen Tätigkeit arbeitete er aktiv in vielen Ausschüssen der FIG mit, gehörte von 1957 bis 1972 dem Technischen Komitee der Männer und von 1972 bis 1980 dem Exekutiv-Komitee des Turn-Weltverbandes an. Auch später als Ehrenmitglied ruhte er sich nicht auf seinen Lorbeeren aus. 1989 erarbeitete er gemeinsam mit Dr. Josef Göhler die „Geschichte der Turngeräte“, die aus Anlass der 25. Turn-Weltmeisterschaften 1989 in Stuttgart als Buch erschien und gewissermaßen wesentliche Elemente der Lebensleistung des Rudolf Spieth dokumentierte. Auch nach Übernahme der Geschäfte von SPIETH Gymnastics durch Sohn Ulrich Spieth, der das Label zu einer der führenden Weltmarken weiterentwickelte, behielten die Prinzipen seines Vaters, dass „Turngeräte im Dienste der Athleten“ stehen müssen, absolute Gültigkeit!
Dem aktuellen Spieth‘schen Firmenleitsatz „Reach the maximum!“ kommt die begeisterte Skifahrerin Jeanette Grau, die seit 2020 im Präsidium des Schwäbischen Turnerbundes als „Mitglied für besondere Aufgaben“ sitzt, in ihrer beruflichen Karriere jedenfalls schon sehr nahe. Im Sommer fährt sie nach Paris zu den Olympischen Spielen. Dort ist ihr Betrieb zwar nicht der offizielle Ausstatter, „aber ich freue mich auf die Atmosphäre – und den Anschauungsunterricht, wie es die anderen machen!“
Mehr Infos: https://www.spieth-gymnastics.de/